München – Um in die Halle 140 zu gelangen, muss Canisius Kellerer eine Seitentür nehmen. Der Haupteingang, über dem der Schriftzug „Motoren“ in großen silbernen Lettern prangt, ist schon seit Wochen von einem Bauzaun umgeben. Der Produktionsspezialist ist auf dem Weg zu seiner ehemaligen Wirkungsstätte. 30 Jahre hat er dort gearbeitet. Der Weg führt vorbei an leer geräumten Zimmern, in denen nur noch einige alte Kalender hängen. Im ersten Stock geht es eine weitere Treppe hinauf, zu einer Brücke und einem Zwischengeschoss. Hier ist sein altes Büro. „Immerhin, das Zimmer gibt es noch“, sagt Kellerer.
Die Motorlinie, für die er sechs Jahre verantwortlich war und an der hunderte Mitarbeiter Sechszylindermotoren zusammengebaut haben, ist weg, auch die Linie für Drei- und Vierzylindermotoren. Demontiert und abtransportiert. Jetzt stehen auf der riesigen Fläche nur noch ein paar Hochregale, Container und Kisten. Nichts regt sich. Das einzige Geräusch ist das Surren der Klimaanlage.
„Früher“, erzählt Canisius Kellerer, während er von der Brüstung hinabblickt, „war hier Vollbeschäftigung. Wir haben teilweise im Dreischichtbetrieb über 3000 Motoren am Tag gebaut. Es hat gewuselt von Kollegen – rund um die Uhr.“ Der 53-Jährige hält kurz inne. „Und jetzt ist alles wie ausgestorben.“
Vor drei Jahren verkündete die BMW Group, das Motorenwerk zu schließen und den Bau der Verbrennungsmotoren in seine Werke in Österreich und Großbritannien zu verlagern. Nur die Linie für die V8-Motoren blieb zuletzt übrig. Heute läuft auch der letzte V8 vom Band. Es ist ein historischer Einschnitt für das Stammwerk. Der Automobilhersteller, gegründet 1916, verdankte sein Wachstum und seinen Erfolg nicht zuletzt seinen Motoren, die von Beginn an in München gebaut wurden. Diese Geschichte ist nun zu Ende.
Der Konzern will die Zukunft des Standorts sichern – und diese Zukunft gehört in München der Elektromobilität. Anstelle der alten Motorenwerkshalle, die kommendes Jahr abgerissen wird, investiert das Unternehmen 400 Millionen Euro in eine neue Fahrzeugmontage für die „Neue Klasse“, wie die BMW Group ihre nächste E-Auto-Generation getauft hat.
Die Mitarbeiter haben das Aus nicht kommen sehen. Das Motorenwerk galt als effizient und modern und sie selbst waren stolz, dort tätig zu sein. Umso größer war das Beben, das die Nachricht vom Ende auslöste. „Für uns war das wie ein Weltuntergang“, erinnert sich ein Mitarbeiter.
„Ich war geschockt“, sagt auch der Leiter der Qualitätsstelle, Dietmar Schmid. „Ich habe immer geglaubt, dass ich bis zur Rente hier arbeite.“ Der 57-Jährige ist seit 1985 im Motorenwerk. Eine lange Zeit, aber nicht ungewöhnlich, sagt er. „Wir hatten immer wenig Fluktuation.“ Viele im Team kennen sich seit Jahrzehnten und egal, wen man fragt: die Mitarbeiter schwärmen vom Zusammenhalt. Viele Freundschaften sind entstanden. Nie, sagt Schmid, habe er sich überlegt, das Motorenwerk zu verlassen. „Wir waren schließlich eine Familie.“
Karlheinz Schwabe hat das Motorenwerk geleitet. Wehmütig sitzt er in der Halle 140 in einem kleinen Büro. Der Besprechungsraum nebenan dient schon länger als Abstellkammer. Schwabe hat vor zwei Jahren die Aufgabe übernommen, den Motorenbau abzuwickeln. „Das Licht auszumachen“, wie der 62-Jährige das nennt. Ob es die schwierigste Aufgabe seiner Laufbahn sei? Der Ingenieur schüttelt den Kopf. „Ich empfinde diese Aufgabe als große Ehre“, sagt er. Es sei ihm ein Anliegen, „den Mitarbeitern zur Seite zu stehen und den Motorenbau würdig zu verabschieden“. Die Entscheidung halten die meisten Mitarbeiter mittlerweile für richtig, auch wenn das Herz schwer ist. „Für die Zukunftssicherung des Werks gab es keine Alternative“, sagt Schwabe. Und Canisius Kellerer sinniert: „Es ist schade um den Motorenbau, aber mit der neuen Montage haben unsere jungen Kollegen für die nächsten 20, vielleicht 30 Jahre sichere Arbeitsplätze.“
Der Konzern hat die 1200 Motoren-Mitarbeiter in die Transformation geschickt, also in die berufliche Neuorientierung. Viele sind nun an anderer Stelle im Unternehmen tätig. Es habe, erzählen einige, gerade am Anfang etwas gehakt, nicht alle seien zufrieden gewesen mit der Art und Weise, „wie die Transformation gelaufen“ sei. Dennoch: Die Mehrheit der Belegschaft zieht im Rückblick ein positives Fazit. Vom Unternehmen her sei sehr viel passiert, sagt der Teamleiter Logistik, Hermann Bares, der seit 1986 im Motorenbau arbeitet. „Es ist offen damit umgegangen worden, gleich von Anfang an.“ Mitarbeitern seien Stellen angeboten worden, sie hätten sogar probearbeiten können. „In meinen Augen“, sagt der 58-Jährige, „ist alles getan worden, was in dieser Situation richtig war.“ Qualitätsleiter Schmid sieht das ähnlich. „Ich habe mir um meine berufliche Zukunft und die meiner Mitarbeiter keine Sorgen gemacht, weil BMW sozial engagiert ist.“ Dass ein Zweig zugemacht und die Leute einfach ausgestellt würden, das gebe es nicht. „BMW ist da anders als viele andere Firmen.“ Dietmar Schmid wechselt ins BMW-Werk Dingolfing, als Verantwortlicher fürs Qualitätsmanagement. Hermann Bares wird Teilprojektleiter in der Logistikplanung für die Standorte Parsdorf, Hallbergmoos und München. Canisius Kellerer wird technischer Gebäudemanager in München.
Leiter Karlheinz Schwabe geht kommendes Jahr in Altersteilzeit. Heute, am letzten Produktionstag, hätte er einen Termin in Steyr gehabt, wo BMW weiter Verbrennungsmotoren baut. Den hat er abgesagt. Diesen Tag, sagt Schwabe, werde er in der Halle 140 an der Motormontagelinie verbringen und alle Mitarbeiter persönlich per Handschlag verabschieden.