Vor 50 Jahren: Entführungsdrama im Pressehaus

von Redaktion

VON NADJA HOFFMANN

München – Peter K. ist mit seinen erst 27 Jahren bereits ein mehrfach verurteilter Straftäter. Der Wärmetechniker aus Augsburg trifft im Gefängnis auf Johann M. (24) und Rudolph M. (23). Dort planen die drei das ganz große Ding. Ihr Opfer: Evelyn Jahn, die Tochter von Wienerwald-Gründer Friedrich Jahn. Der gebürtige Linzer ist eine der schillerndsten Figuren der 1970er-Jahre. 1955 eröffnete er in der Münchner Amalienstraße sein erstes Restaurant. Seine Wienerwaldkette wird dann schnell zum Imperium. Das Lösegeld, kalkulieren die Täter, ist für einen wie ihn kein Problem. Das Protokoll eines 50 Jahre alten Kriminalfalls:

Dienstag, 13. November 1973

22 Uhr: Evelyn Jahn isst in der neuen Wienerwald-Zentrale an der Elsenheimerstraße zu Abend. Von ihrem Büro aus telefoniert sie kurz mit ihrer Mutter Hermine.

22.30 Uhr: Die 22-Jährige fährt mit ihrem postgelben Porsche heim nach Deisenhofen. In der Tiefgarage halten ihr die Entführer eine Waffe vor, verbinden ihr die Augen und bringen sie nach Augsburg. Das Versteck: Apartment Nummer 1709 im Holiday-Inn-Turmhotel. Die Täter benutzen den Lastenaufzug.

Mittwoch, 14. November

3 Uhr: Friedrich Jahn, damals 49, ist in Linz, als ihn das Telefon aus dem Schlaf reißt. Am Apparat ein Entführer: „Wir haben ihre Tochter in unserer Gewalt und fordern von Ihnen drei Millionen D-Mark Lösegeld. Klar! Wir melden uns wieder.“

3.05 Uhr: Wieder klingelt es. Die Entführer spielen ein Tonband mit Evelyn ab: „Papa, mir geht’s gut. Es wird auch alles gut gehen. Befolge bitte die Anweisungen der Männer!“ Die Entführer sagen, der nächste Anruf komme in die Wohnung seiner anderen Tochter Margot am Geiselgasteig. Friedrich Jahn fährt sofort nach München.

9 Uhr: Evelyns Porsche wird in Freimann gefunden.

12 Uhr: Die Entführer bringen Evelyn Jahn Mittagessen. Ausgerechnet ein Hendl! „Ich traute meinen Augen nicht, als die mir eine Wienerwald-Tüte zeigten“, sagt sie später. Die Entführer seien höflich gewesen, hätten sie nicht angefasst. Sie besorgen ihr sogar einen Fernseher, damit sie das Fußballspiel BRD gegen Schottland sehen kann.

15 Uhr: Friedrich Jahn wartet. Nachmittags der nächste Anruf. Die Forderung: Er soll auf der Autobahn Hof–Berlin in die DDR fahren. „Wenn Sie fünf Blinkzeichen sehen, legen Sie eine weiße Tasche mit drei Millionen Mark in 1000-, 500- und 100-Mark-Scheinen an den Straßenrand.“ Jahn erklärt, eine Einreise in die DDR sei gar nicht möglich.

22 Uhr: In der „tz“-Redaktion arbeitet um diese Zeit sonst nur noch der Spätdienst. An diesem Tag ist im Pressehaus Paul-Heyse-Straße aber Vollbetrieb. Zur Runde gehört auch der Fotograf Heinz Gebhardt. „Alle haben gehofft, dass noch etwas passiert und sich die Entführer vielleicht in der Redaktion melden.“ In damaligen Zeiten mit sehr beschränkten Kommunikationsmöglichkeiten ein durchaus denkbares Szenario.

23.20 Uhr: Tatsächlich: Das Telefon von Redakteur Thomas Koch, damals 33, klingelt. Es ist Entführer Peter K. (siehe Kasten). Es folgen lange 270 Minuten Verhandlungen. „Ich redete um das Leben von Evi“, fasst Koch die Nacht zusammen. „Mir ging es nicht um Sensation, nicht um eine exklusive Geschichte. Mir ging es einzig und allein um das Leben eines Menschen.“

23.35 Uhr: Während Koch die ersten Worte mit den Kidnappern wechselt, schreibt er „Entführer“ auf ein Blatt Papier und hält es hoch. Die Spannung in der Redaktion steigt. „Wir sind jetzt aber nicht in Ohnmacht gefallen“, blickt Gebhardt, heute 76, zurück. „Genau auf diese Situation haben wir ja gewartet.“

Donnerstag, 15. November

Kurz nach Mitternacht: Evelyns Mutter Hermine und ihr Schwager Günter Steinberg treffen in der Redaktion ein. Steinberg ist mit Evelyns Schwester Margot verheiratet und arbeitet im Wienerwald-Imperium mit (Wiesn-Wirt wird er 1980). Sie hören mit, wie Thomas Koch mit den Entführern spricht. Und sie hören eine Tonband-Aufnahme von Evelyn an. Als klar ist, dass jeder das Lösegeld überbringen darf, ist für Steinberg sofort klar: „Ich mache das.“

1.35 Uhr: Günter Steinberg bereitet sich auf die Lösegeld-Übergabe vor. Die „tz“ hat sich an alle Abmachungen mit den Entführern (siehe Kasten) gehalten. Aber Friedrich Jahn hatte die Polizei schon am Mittwoch eingeschaltet. Die Beamten legen ein Funkgerät auf die Rückbank von Steinbergs Auto. „Darüber habe ich dann meinen Mantel gelegt.“

2 Uhr: Mit Tränen in den Augen drückt Steinberg seine Schwiegermutter. „Komm gesund wieder und bring Evi mit“, sagt sie. Dann fährt er zur Verbindungsstraße Neuherberg–Lustheim. Im Kofferraum versteckt: ein Polizist.

2.30 Uhr: Steinberg wartet am vereinbarten Treffpunkt. „Ich hatte fürchterliche Angst“, erinnert er sich. Nach außen ist er aber ganz ruhig. Das Warten dauert. Was Steinberg nicht weiß: Er ist nicht allein in der Dunkelheit. Nur 30 Meter entfernt sind rund 200 Polizisten heimlich in Stellung gegangen.

3.35 Uhr: Die Übergabe verzögert sich um 20 Minuten. Als Steinberg gerade die beiden Taschen mit den drei Millionen D-Mark am Straßenrand abstellen will, hält ihm ein Kidnapper eine Pistole an die Brust, ein zweiter eine an den Hals. Ein Verbrecher durchwühlt die Taschen, der andere schaut ins Auto. Das Funkgerät unter dem Mantel sieht er nicht. Steinberg fragt: „Wo ist Evelyn?“ Kurz darauf darf sich die 22-Jährige in sein Auto setzen. Steinberg fährt los. „Dann sind die ersten Schüsse gefallen.“ Blitzschnell wendet er und drückt das Gaspedal durch. „Erst am Sendlinger Tor ist mir eingefallen, dass da ja noch ein Polizist im Kofferraum ist.“

3.45 Uhr: Trotz der 200 Polizisten entkommen die Entführer im Kugelhagel. Das Präsidium muss sich später Dilettantismus vorwerfen lassen. Denn: Die Ausfallstraßen rund um den Treffpunkt wurden nicht gesperrt. Besonders clever sind aber auch die Entführer nicht: Der Wagen, mit dem sie zur Lösegeldübergabe kommen, ist auf Kidnapper Peter K. zugelassen. Außerdem haben sie vor ihrem Opfer keine Gesichtsmasken getragen. Vorerst gelingt aber die Flucht. Der BMW wird von mehreren Kugeln getroffen. Peter K. und sein Komplize Johann M. rasen ins Münchner Stadtviertel Hasenbergl, lassen an der Petrarcastraße das Auto stehen, fliehen zu Fuß weiter.

4 Uhr: Die Täter rennen über Felder Richtung Feldmoching, wo sie die Geldtaschen verstecken wollen. Die Polizei setzt Suchhunde ein. Ohne Erfolg. Kriminaldirektor Gustav Stogel sagt tags darauf ziemlich zerknirscht: „Wir sind unzufrieden mit dem, was wir erreicht haben.“

4.05 Uhr: Steinberg und Evelyn kommen im Polizeipräsidium an. Die gute Nachricht erreicht Mutter Hermine in der „tz“-Redaktion. Sie stößt mit den Reportern auf das glückliche Ende an. Dann fahren alle zur Ettstraße. Im Büro des Polizeipräsidenten Manfred Schreiber liegen sich alle in den Armen. Von ihrem Lebensgefährten Günter Peitzner gibt es einen dicken Kuss für Evelyn.

4.30 Uhr: Kidnapper Johann M. versucht ohne Erfolg, seine Frau aus einer Telefonzelle zu erreichen. Per Bus, U-Bahn und Taxi fahren die Täter zum Bahnhof Feldmoching und dann in die Stadt.

Die Verhaftungen

67 Stunden nach der Entführung sitzen alle drei Täter hinter Gittern. Davor geht es aber noch turbulent zu.

Nach der Fahrt in die Stadt fällt Peter K. und Johann M. plötzlich ein: Sie haben die Spuren im Hotel nicht verwischt. Sie rasen nach Augsburg, kommen aber nicht mehr ins Hotel. Also zurück nach Feldmoching zu den Geldkoffern. Einen können sie nicht finden, in der Nähe des anderen sind Bauarbeiter fleißig. Die Entführer fahren wieder in die Innenstadt und beschließen, den großen Batzen Geld, den sie sich gleich von der Beute genommen haben, auf den Kopf zu hauen.

Peter K. geht am Stachus zum Friseur, bezahlt per Post-Überweisung Schulden. Auch Johann M. geht zum Friseur, dann zum Stehausschank „Bei Helga“. Dort protzt er derart, dass die Wirtin fragt: „Hast etwa gar Du die Jahn-Tochter entführt?“ Mit seiner Frau Marlene schnappt sich M. später eine Lösegeldtasche mit 1,4 Millionen Mark, fährt nach Bayreuth, kauft einen Spaten, vergräbt einen Teil des Geldes. Als er in der Gaststätte „Grötschel“ auf die Millionen trinken will, wird er erkannt und verhaftet. Das Auto-Kennzeichen hatte die Polizei längst auf die Spur der Täter gebracht. Über Radio und Fernsehen wird gefahndet.

Peter K. wird der Druck zu groß. Nach ein paar Stunden ruft er die Polizei an: „Ich kann nicht mehr!“ Seine Verlobte hatte ihn da schon bei der Polizei verpfiffen. K. verrät den dritten Komplizen Rudolph M. Auch die Frau von Johann M. wird festgenommen. Bei der Leibesvisitation trauen die Beamtinnen ihren Augen nicht. Im Büstenhalter hat sie 40 000 D-Mark Lösegeld versteckt. Die Entführer werden später zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

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