Narva – Auf der Brücke ist längst nicht mehr so viel los wie vor dem Krieg, aber Betrieb herrscht doch. Lastwagen stauen sich, manchmal stundenlang. Fußgänger haben es da besser. Sie zeigen ihren Pass, den grauen, der zum Übergang berechtigt, Kontrolle, dann geht es rüber ins Nachbarland. Manche würden sagen: rüber zum Feind.
Narva, gut 53 000 Einwohner, ist die drittgrößte Stadt Estlands. Sie liegt ganz im Osten, nur ein Fluss, der genauso heißt wie die Stadt, trennt sie vom großen Nachbarn Russland. Sankt Petersburg, die Geburtsstadt Wladimir Putins, ist gerade zweieinhalb Autostunden entfernt. Hier prallen zwei Welten aufeinander, zwei Systeme. Wie lebt es sich da, wo die Freiheit endet?
Schon immer waren die Dinge hier in Narva komplexer als im Rest des Landes. 95 Prozent der Einwohner sind russischsprachig, nur die Hälfte hat den estnischen Pass, ein Drittel den russischen. Viele wollen nicht zwischen beiden Ländern wählen. Sie haben einen grauen Pass, sind im Grunde staatenlos. Es ist ein nicht ganz leichtes Gemisch, aber man kam klar. Dann griff Russland die Ukraine an.
„Nach Beginn des Krieges ist die Identität vieler Menschen hier zerbrochen“, sagt Katri Raik. „Sie suchen noch immer eine neue.“ Raik, schwarzes Haar, große, rote Brille, war mal Innenministerin ihres Landes und bis vor Kurzem Bürgermeisterin Narvas. „Die Situation ist nicht leicht, alles ist sehr politisiert“, sagt sie. Die 56-Jährige hat das am eigenen Leib erfahren.
Nach Kriegsbeginn wollte die Regierung in Tallinn sichtbare Zeichen setzen. Eines davon: Aus dem Land sollten alle Sowjet-Monumente verschwinden. Im August 2022 bauten sie deshalb in Narva ein Panzer-Denkmal ab, das an den Sieg der Sowjets über Nazi-Deutschland erinnerte. Bürgermeisterin Raik lebte drei Wochen mit Polizeischutz, weil es Drohungen gab. „Das war nicht die beste Zeit meines Lebens. Aber es ist vorbei.“
Und dann ist da das zweite Zeichen der Regierung in Tallin, ein echter Bruch. Ab kommendem Schuljahr soll es keine russischsprachigen Schulen mehr im Land geben, peu à peu wird das Bildungssystem auf Estnisch umgestellt. Das ist praktisch ein Problem, weil viele Lehrer im Land schlecht oder kein Estnisch sprechen. In Narva sind das rund 300 Lehrer. Das schafft Sorgen, gerade hier. Als dann noch sowjetische Straßennamen entfernt werden sollten, stürzte eine neue Gruppe im Stadtrat die Bürgermeisterin per Misstrauensvotum.
Die russische Identität ist das eine – Putin und sein Krieg das andere. Was die Menschen in Narva darüber denken, lässt sich nur schwer sagen, sie reden nicht gerne darüber. Landesweit, heißt es, sei ein Drittel der Russischstämmigen gegen den Krieg, ein Drittel sympathisiere, was der Rest denkt, weiß niemand. In einem, sagt Raik, sind sich in Narva aber alle einig: Niemand wolle weg von hier. Alle wüssten, wie das Leben in Russland ist. Es gibt einen vielsagenden Spruch dazu, er geht ungefähr so: Die faulsten Russen leben in Iwangorod. Sie haben es nicht rechtzeitig nach Narva geschafft.
Iwangorod, das ist die Stadt auf der anderen Seite der Brücke. Zu Sowjetzeiten war sie eins mit Narva, man teilte sich einen Friedhof und ein Wassersystem. Es gab sogar mal eine Initiative, beide Städte wieder zu vereinen – lange her. Am Ende wurde nichts draus, rückblickend ist das besser so.
Dass hier inzwischen zwei Welten aufeinanderstoßen, war am 9. Mai zu sehen. Als sie drüben in Iwangorod den Tag des Sieges über Nazi-Deutschland feierten, da hängte Navra ein meterhohes Plakat an die mittelalterliche Hermannsfeste. „Putin Kriegsverbrecher“ stand darauf, dazu ein blutgetränktes Porträt des Kreml-Chefs. Dahinter steckte das städtische Museum. Ziel sei es gewesen, der russischen Propaganda etwas entgegenzusetzen. Beschwerden ließ man abtropfen.
Und die Angst? Gibt es natürlich. Es kommt aber darauf an, wen man fragt. Viele Bürger seien in Sorge, hört man immer wieder. Raivo Vasnu ist es nicht. Er arbeitete lange Jahre für eine russische Firma, verschliss in dieser Zeit unzählige Reisepässe und sagt: „Niemand hier glaubt, dass jemand uns attackieren wird.“ Viele warteten nur darauf, dass der Krieg ende und das normale Leben wieder beginne. Er selbst hat sich für diesen Tag schon mit ehemaligen Kollegen verabredet. Auf russischer Seite. Narva, die Stadt am Ende Europas, ist nur schwer zu entschlüsseln. Man lebt zwischen den Welten, aber die Richtung ist klar. „In Narva“, sagt Ex-Bürgermeisterin Raik, „hört Europa nicht auf. Hier fängt es an.“ MARCUS MÄCKLER