München – Corona, Ukraine-Krieg, Klimawandel, Energiekrise, Inflation, Migration und jetzt auch noch Israel. Krise folgt derzeit auf Krise – ohne dass die vorherige nachhaltig gelöst wäre. Geht das alles spurlos an uns Deutschen vorbei? Der Gesellschaftsforscher Dirk Ziems vom Kölner Institut „concept m“ ist dieser Frage nachgegangen. Mit einem „Deutschland-Psychogramm“ hat er den Bürgern in Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen den psychologischen Puls gefühlt. Seine Diagnose: Angesichts der sich stapelnden Krisen macht sich bei vielen Menschen ein Gefühl der Überforderung breit. Ein Gespräch über die Gemütslage der Nation.
Herr Ziems, Sie sprechen mit Menschen darüber, wie sie Krisen wahrnehmen. Wie muss ich mir das vorstellen?
Wir führen sehr lange und fortlaufende Gespräche mit einer Gruppe von Menschen, die einen Querschnitt darstellt. Ost und West, wohlhabend und finanziell angespannt, politisch sehr interessiert und eher sporadisch informiert – alles ist dabei.
Wonach fragen Sie?
In diesen Interviews geht es weniger um das Abfragen von Meinungen als vielmehr um die Wirkung der Nachrichten auf den Alltag der Menschen. Wir machen also so etwas wie eine kleine Zeitreise. Wie war das, als Sie dieses oder jenes zum ersten Mal gehört haben? Erinnern Sie sich noch an die ersten Bilder? Wie ist es heute? So versuchen wir möglichst nah an das Erleben der Menschen ranzukommen. Daraus ergeben sich wiederum psychologische Fakten. Man kann zum Beispiel erkennen, wann eine Abstumpfung eingesetzt hat.
Was nehmen Sie in diesen Gesprächen wahr?
Es herrscht in Deutschland das Gefühl vor, dass vor Corona die Welt gewissermaßen noch in Ordnung war. Damals hat es zwar auch Krisen gegeben, aber man hatte den Eindruck, dass sich die Lage danach auch wieder besserte. Von der Flüchtlingskrise von 2015 war 2017 kaum noch etwas zu spüren – die Rückkehr zur Normalität.
Und heute?
Seit Corona erleben die Menschen eine Art Stapelkrise. Mehrere Krisen folgen aufeinander, ohne dass je eine gelöst wird. Die Pandemie ist zwar vorbei, aber die Folgen sind noch da – in den Schulen, in der Gastronomie. Noch schlimmer: der nicht endende Ukraine-Krieg, die Inflation, die möglicherweise zurückkehrende Energiekrise. Wenn die Menschen in eine Talkshow reinzappen, hören sie plötzlich jemanden, der die Gefahr eines dritten Weltkriegs sieht. Solche Stimmen gab es noch vor einigen Jahren gar nicht. Das ist eine neue Qualität. Statt einer Rückkehr zur Normalität erleben die Menschen dadurch einen Dauerstress, mit dem sie zurechtkommen müssen.
Die politische Welt wird als bedrohlich angesehen?
Ja. Und das pflanzt sich fort in einem negativen Erleben der Lage in Deutschland. Bei der Digitalisierung geht nichts voran, die Migration kriegen wir auch nicht geregelt, und die Autoindustrie ist in Gefahr. Sind wir wirtschaftlich noch stabil oder schon der kranke Mann Europas? All diese Themen wabern um die Menschen herum. Zudem spüren sie den realen Kaufkraftverlust und den angespannten Wohnungsmarkt. Die Jüngeren können sich anders als ihre Eltern den Hausbau nicht mehr leisten. Man kämpft sich ab im Job, will für die Familie etwas schaffen – aber das Eis wird immer dünner. Die Älteren ab 50 wollen hingegen ihre Schäfchen ins Trockene bringen. Der Blick geht in Richtung Ruhestand, und man ist glücklich, dass man sich noch ein Eigenheim leisten konnte, hat aber gleichzeitig Angst, dass man demnächst eine Wärmepumpe einbauen muss. Es gibt keinerlei Aufbruchstimmung, sondern gefühlt nur noch Gefahren.
Wie gehen die Menschen damit um?
Das alles führt bei vielen sehr stark zu einem Rückzug in private Fluchtpunkte. Man freut sich auf den Mallorca-Urlaub, solange man ihn noch bezahlen kann, macht Spaziergänge in der Natur, Freunde sind wichtig, Familie ist wichtig – und beim Kaffeetrinken will man bloß nicht über politische Themen sprechen. Man schaltet die Tagesthemen aus und TikTok an, um sich zu zerstreuen.
Auf Nachrichten wird verzichtet?
Die meisten schaffen es nicht, sich ganz zu entziehen. Wie Kinder, die sich die Hände vors Gesicht halten, wenn sie einen gruseligen Film sehen, und dann doch durch den Spalt zwischen ihren Fingern blicken. Wenn man dann bruchstückhaft einen weiteren Aufreger-Beitrag mitkriegt, lässt man sich davon sehr stark beeinflussen. Geht es um die russischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung in der Ukraine, ist man der Meinung, dass Putin unbedingt besiegt werden muss. Geht es um das sinnlose Sterben auf dem Schlachtfeld, denkt man hingegen wieder, dass jetzt unbedingt Frieden geschlossen werden muss. Sich eine konsistente Meinung zu bilden fällt vielen sehr schwer. Die Standpunkte fluktuieren nach Tagesnachricht.
Gilt das auch für den Gaza-Krieg?
Ja, als es um das Massaker ging, das die Hamas auf dem Festival in Israel angerichtet hat, sagten einige Befragte: Mein Kind geht auch auf solche Festivals. Das geht den Menschen nahe. Sie vergleichen daraufhin die Hamas mit der SS. Wenn dann aber ein Krankenhaus in Gaza brennt, kippt das wieder. Dann sagen die Leute, die Situation im Nahen Osten darf nicht eskalieren. So geht es hin und her. Ein unaushaltbarer Zustand. Dazu kommt, dass der Nahost-Konflikt noch viel komplizierter ist als der in der Ukraine. Und: Die Konflikte verweben sich. Russland ist auch in Syrien involviert, und der Iran liefert Drohnen gegen die Ukraine. Es wirkt wie ein bedrohlicher Vorweltkriegszustand. Die Stimmung vieler Menschen schwankt zwischen Beängstigung und resignativem Ausblenden.
Resignieren am Ende alle?
Nein. Es gibt auch eine Minderheit der Meinungsstarken. Sie übernehmen die Positionen, wie wir sie in den Talkshows sehen, ins Private und bekämpfen sich auf dem Schlachtfeld der Narrative. Die einen fordern Härte gegen Putin, die anderen Verhandlungen. Die Standpunkte sind eigentlich immer die gleichen. Doch auch hier sorgt der Gaza-Krieg für eine Zuspitzung der Überforderung, die nun auch die bisher Meinungsstarken immer mehr trifft. Dass die Israelis die Hamas ausschalten wollen, halten einige für gerechtfertigt. Aber rechtfertigt das die Gewalt gegen unschuldige Palästinenser im Gaza-Streifen? Die Widersprüche sind kaum auflösbar.
Was macht das mit den Diskussionen in unserem Land?
Was man sieht und – denke ich – noch stärker sehen wird, ist eine Verlagerung in die Innenpolitik. Die Debatte um eingewanderten Antisemitismus und um die Pro-Palästina-Demonstrationen in den Städten macht den Nahost-Konflikt greifbarer. Und – weil die Polizei das letztlich ja alles noch im Griff hat –- auch aushaltbarer.
Wie viel Schuld an der Überforderung trifft die Medien?
Nicht so viel, glaube ich. In unseren Befragungen wird natürlich zum Teil schon auch kritisiert, dass die Berichterstattung einseitig wäre – zum Beispiel pro Ukraine. Das kommt aber vor allem aus einer bestimmten Ecke, die auch Verschwörungstheorien nahesteht. Die Mehrheit sieht sich glaubwürdig informiert. Nur leidet sie eben unter dem, was sie da hört und liest. Daran können einzelne Medien aber nicht viel ändern.
Wie lässt sich die Überforderung denn abbauen?
Kaum, solange sich die Krisenlage nicht entspannt. Im Moment zählt nur das Prinzip Hoffnung. Wie sagte kürzlich einer unserer Interviewpartner zu mir: „Irgendwann kommen vielleicht wieder bessere Zeiten.“
Interview: Sebastian Horsch