München – Ein unauffälliger älterer Herr geht allein durchs Lokal, braun gemusterter Pulli über dem Hemd. Und doch wenden sich Köpfe: Ist das nicht? Ja, der? Ach, hier? Günther Beckstein, ehemaliger Ministerpräsident, ist zum Interviewtermin mit unserer Zeitung verabredet. Uneitel, unaufgeregt wie immer, nur eine kleine Bitte: Sein Stück Obstkuchen will er vor dem Interview essen. Dann kann das Gespräch beginnen. Heute feiert Beckstein seinen 80. – eine kleine Rückschau.
Sprechen wir mit einem glücklichen Ruheständler?
40 Stunden hat meine Arbeitswoche schon noch, ein normaler Ruhestand ist das also nicht. Aber ich hab keinerlei politisches oder kirchliches Amt mehr. Ich habe manche Abende frei. Insgesamt fühle ich mich als ein freier Mensch – das ist ein ganz großer Fortschritt.
2008 als Ministerpräsident scherzten Sie: „Wenn ich einen Tag frei habe, bekomme ich Kopfweh.“
Ich habe mich dran gewöhnt, dass man auch Freizeit haben kann. (lacht)
War es ein Fehler, pausenlos zu arbeiten – über Jahrzehnte hinweg?
Ja. Ich habe das übrigens auch meinem Freund Markus Söder gesagt: Mach’ mal einen Tag Pause, das gibt wieder Freiheit im Kopf. Wir setzen uns in der Politik zu oft unter einen Termindruck, der nicht überbietbar ist. Ich hab’s gesundheitlich bezahlt – wie man mir ansieht. (Er dreht den Kopf, so dass man das Hörgerät-Implantat sieht, das er seit vielen Jahren am Kopf trägt.)
Wenn Sie so zurückblicken: Was war die schönste Zeit ihres Lebens?
Ich hatte ein tolles Leben, ich bin unendlich dankbar. Alle wichtigen Entscheidungen würde ich wieder so treffen. Ich würde wieder in die Politik gehen, auch in diesem Spannungsfeld mit der Kirche. Ich würde wieder als Ministerpräsident kandidieren. Und ich würde wieder bei diesem Ergebnis 2008 zurücktreten. Ich weiß aber genauso, dass ich im Detail viele Fehler gemacht habe. Die zu vermeiden, würde ich mir vornehmen.
Juckt Politik doch noch?
Ich bin froh, dass ich jetzt bei diesen unglaublichen Krisen keine direkte Verantwortung mehr trage. Nein, ich bilde mir nicht ein, dass ich die Welt jetzt besser retten könnte als die Politiker heute.
Wenn die Leute heute an Günther Beckstein denken, denken sie vor allem an den Innenminister …
… und an Fasching! (lacht)
Waren die Ministerjahre Ihre wichtigste Zeit?
14 Jahre Innenminister, fünf Jahre Staatssekretär – das hat mich ungeheuer geprägt. Es war mein absoluter Ehrgeiz, Bayern zum sichersten Land zu machen. Das ist gelungen. Nicht weil ich so gescheit bin, sondern weil wir der bayerischen Polizei Selbstbewusstsein gegeben und Rückendeckung bewiesen haben.
Als Innenminister sammelten Sie drei Aktenordner voll Morddrohungen. War das politische Klima schon damals vergiftet oder ist es schlimmer geworden?
Es ist schlimmer geworden durch die Sozialen Medien. Es ist für Menschen sehr viel leichter, ihre Stimmungen rauszurotzen. Einen Leserbrief zu schreiben, dauert länger, als eine Beleidigung ins Handy zu tippen. Ich weiß aber nicht, ob die Drohungen heute mehr Substanz haben.
Wie sollte die Gesellschaft darauf reagieren?
Die Grundüberlegung der Demokratie ist: Es haben nicht alle die gleiche Meinung, nichts ist alternativlos. Also müssen wir immer über Alternativen diskutieren können. Rede und Gegenrede. Argument und Gegenargument. Und das durchaus hart. Ich bin mit Claudia Roth befreundet…
… der grünsten Grünen …
… und habe mit ihr harte Diskussionen. Aber der Respekt vor der anderen Meinung muss immer da sein. Theoretisch kann es ja sogar in Bayern mal sein, dass die Opposition mal recht hat.
Unter einem Innenminister Beckstein gab es keine AfD. Welche Handhabe sehen Sie heute dagegen?
Wir hatten damals die Republikaner. Die haben wir erfolgreich bekämpft: Wir haben ihnen die berechtigten Themen weggenommen und die Radikalismen gnadenlos aufgedeckt. Die härtesten Auseinandersetzungen habe ich selbst geführt, habe die anderen Innenminister mühsam dazu gebracht, die Republikaner vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen.
Das heißt übersetzt auf heute und die AfD?
Die AfD heute hat sich von einer eurofeindlichen zu einer Anti-Ausländer-Partei entwickelt – und das mit der Öffnung der Grenzen 2015. Ich habe damals Angela Merkel angerufen und sie – bei aller Hochachtung – hart kritisiert: Es ist furchtbar falsch, was Du da machst! Die ungeordneten Flüchtlingsströme haben die AfD groß gemacht.
Also Ihr Rat: Lauter über Asyl reden!
Über alle Probleme! Mich ärgert nach wie vor, dass jemand, der illegal ins Land kommt, als Asylbewerber abgelehnt, aber nicht abgeschoben wird, so viel Sozialhilfe bekommt wie ein Arbeiter, der 30 Jahre geschuftet hat und mit 58 gesundheitlich angeschlagen keinen Job mehr kriegt. Das ist unethisch. Mich haben’s beim Kirchentag ausgepfiffen, als ich das gesagt habe – aber es ist meine Überzeugung. Deshalb halte ich auch das Bürgergeld in dieser Form für falsch. Ich lästere: Die Mehrzahl derer, die es kriegen, sind keine Bürger.
Hadern Sie mit Ihrer Kirche, die Schleusungen im Mittelmeer unterstützt?
Ich halte es für falsch. Das diskutiere ich mit Heinrich Bedford-Strohm, mit dem ich befreundet bin, hart. Er sagt: Wir dürfen niemanden ertrinken lassen. Da hat er recht. Aber ich sage: Es ist falsch und gegen das internationale Seerecht, jemanden vor Tunesiens Küste aufzunehmen und nach Italien zu bringen. Der nächste Hafen wäre in Nordafrika. Ich bin überzeugt: Viele wagen sich nur wegen dieser Praxis auf die Schiffe.
Sind Sie nach wie vor ein sehr christlicher Mensch?
Ja. Für mich war und ist mein Glaube wichtig. Es ist wunderbar, auch in härtesten Zeiten zu wissen: Ich falle nie tiefer als in Gottes Hand. Deshalb leide ich auch unter dem desolaten Zustand der Kirchen. Die deutschen Bischöfe sind gespalten, ein Teil wird von Rom immer wieder zurückgepfiffen. Auch bei den Protestanten ist die Lage nicht viel besser. Für eine Gesellschaft und ein Land ist es sehr schwierig, wenn Kirchen ihrer segensreichen Aufgabe nicht mehr genügend nachkommen.
Sie haben sich Kommentare zur Tagespolitik oft verkniffen. „Ich beiße mir auf die Zunge“, sagen Sie. Wie zerbissen ist die Zunge?
Nicht mehr. Nur anfangs ist es mir schwergefallen. Ich will meiner Partei die Loyalität zurückgeben, die sie mir, wenn auch nicht immer zu 100 Prozent, über Jahrzehnte gegeben hat. Die klügste Loyalität ist, auch mal den Mund zu halten.
Fällt nicht jedem leicht.
Ich habe selber erlebt, dass öffentliche Ratschläge vom Vorgänger als Schläge, nicht als Rat, empfunden werden.
Trotzdem: Ist es unfair, dass Sie für 43,4 Prozent zurücktraten – ein Ergebnis, für das Söder heute auf der Sänfte durch München getragen würde?
(lacht) Der Vergleich ist nicht gerecht, die CSU muss heute gegen Freie Wähler und eine AfD antreten. Die 37 Prozent von Markus Söder sind kein strahlendes, aber ein solides Ergebnis.
Schreiben Sie ihm manchmal SMS, beraten Sie ihn?
Wenn ich unbedingt was loswerden will, schreibe ich eine SMS. Er antwortet extrem schnell. Und wir sehen uns häufig in Nürnberg.
Hätten Sie gedacht, dass die Freien Wähler so stark werden?
Dass die Freien Wähler einen Sprung machen, war mir klar bei der Flugblatt-Geschichte. Viele Menschen, auch ich, haben die Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ als Kampagne kurz vor einer Wahl empfunden, nicht als Berichterstattung. Man hatte den Eindruck: Die wollen Schwarz-Grün, die schreiben den Aiwanger raus. Ich sage das, obwohl ich viele Leute kenne, die ihm nicht abnehmen, dass das Flugblatt sein Bruder geschrieben habe…
Nehmen Sie’s ihm ab?
Nein.
Sie sagten über Aiwanger und das Flugblatt: Das war kein Dumme-Jungen-Streich, das war „kotz- erbärmliche Blödheit“. Gelten diese Worte noch?
Ja. Dennoch gilt: Aiwanger ist heute ein Demokrat, kein Antisemit. Es war in der Summe klüger, ihn nicht zu entlassen.
Sie arbeiten ja noch ein bisserl, in der Atom-Endlager-Kommission. Warum, um Himmels Willen, das?
Das war eine Dummheit von mir. (lacht) Ich habe nicht geahnt, dass das ein enormer Aufwand ist mit einem Zeitplan, der völlig aus dem Ruder läuft. Manchmal scherze ich: Mein jüngster Enkel, er ist vier, wird nicht erleben, dass das Endlager befüllt ist. Trotzdem nehme ich diese Aufgabe ernst: Es muss einen transparenten, tiefen Prozess geben, um einen gut geeigneten Standort zu finden.
Schauen wir noch mal auf Ihre Polit-Ämter. Durch alle Jahre hat Sie eine Holzfigur begleitet – der Heilige Antonius. Warum er, der Schutzpatron der Bettler?
Er ist die Verkörperung der Menschenwürde! Dass der Bettler dieselbe Menschenwürde hat wie der Nobelpreisträger, der Schwerstbehinderte so wie der Weltrekordler – das ist die Kernbotschaft des Christentums. Dieser Heilige Antonius hat mir immer gesagt: Schnapp’ net über, Du bist nicht mehr wert als ein Bettler. Eine unglaubliche, wichtige Botschaft!
Am Ende mussten Sie die Figur, sie war Staatseigentum, wieder abgeben. Ist das schwer gefallen?
Ja.
Wie oft hat Ihnen Ihre Frau im Amt Rat gegeben?
Sehr oft. Ich bin jetzt 50 Jahre mit ihr verheiratet. Sie war nie eine grenzenlose Bewunderin, sondern hat mich immer mit Herzlichkeit scharf kritisiert. Als ich damals in Erding diesen Scherz mit den zwei schlecht eingeschenkten Mass Bier gemacht habe, der vor Ort niemanden gestört hat, hat sie mir sofort gesagt: „Das war ein absolut blöder Spruch, Du wirst sehen, das wird missverstanden.“ Auch nach meinem Rücktritt 2008 hat sie mir enorm geholfen. Da gab es Anzeichen, dass mir das doch schwer fiel und ich Mitleid mit mir selbst hatte. Meine Frau hat mir gesagt: „Sei net so wehleidig. Das gehört zur Politik.“ Ich bin ihr unheimlich dankbar.
Interview: Mike Schier und Christian Deutschländer