Tel Aviv/Gaza – An diesen Moment zu denken – Joni Asher hatte es kaum gewagt. Jetzt sitzt er da auf dem Krankenbett, die Arme fest um seine Familie geschlungen. Er wirkt, als wolle er sie nie wieder loslassen. „Ich habe davon geträumt, dass wir nach Hause kommen“, sagt die vierjährige Raz. „Jetzt ist dein Traum wahr geworden“, erwidert der Vater. Mitarbeiter der Klinik haben das herzzerreißende Wiedersehen dokumentiert.
Jonis Frau Doron und die beiden Töchter Raz (4) und Aviv (2) waren zu Besuch bei der Großmutter im Kibbuz Nir Oz in der Nähe des Gazastreifens, als die Terroristen kamen, die Großmutter erschossen und Jonis Familie verschleppten. Die drei gehörten zu den ersten 17 Geiseln, für die der Albtraum am Freitag endete. „Ich bin glücklich, dass ich meine Familie zurückhabe“, sagt der Vater. „Aber ich feiere nicht, ich werde nicht feiern, bis die letzte der Geiseln nach Hause zurückgekehrt ist.“ Ob die restlichen Geiseln noch am Leben sind, ist unklar. „Es gibt noch Menschen mit gebrochenem Herzen“, sagt Joni mit Blick auf die vielen Familien, die noch immer auf ein Lebenszeichen ihrer Angehörigen hoffen.
Doron, Raz und Aviv Asher gehören zu jenen Geiseln, die auch einen deutschen Pass haben – ebenso wie die 38-jährige Adina Shoham, die die Hamas mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter freiließ. Weit über 50 Geiseln sind inzwischen in Sicherheit, am Sonntag waren erneut 17 Geiseln freigekommen. Im Austausch übergab Israel über einhundert Palästinenser. So könnte der Deal auch in den kommenden Tagen weitergehen. Die von Katar vermittelte Vereinbarung sieht eine mögliche Verlängerung der aktuell viertägigen Waffenruhe auf bis zu zehn Tage vor. Israel hofft auf die Freilassung von 80 der 240 Entführten.
Wie wacklig das Abkommen ist, zeigte sich am Wochenende. Überraschend stoppte die Hamas am Samstag in letzter Minute die Übergabe der Geiseln. Israel erfülle nicht ausreichend seinen Teil des Abkommens, hieß es. Das Land wies dies zurück. Nach Vermittlungen Katars kamen die Geiseln Stunden später doch frei. Wie schwer Israel der Austausch fällt, zeigen die Worte von Armeesprecher Doron Spielman. Dass sich die Freigelassenen unter Fahnen der Hamas feiern ließen, sage alles über sie, sagte er. „Es ist eine Schande, dass wir sie freilassen.“ Laut Israel waren die Ausgetauschten wegen terroristischer Straftaten verurteilt oder angeklagt.
Unklar ist, was die 50-tägige Todesangst mit den Geiseln gemacht hat. Vorerst bleiben sie im Krankenhaus, werden von Spezialisten versorgt. Ärzten zufolge geht es den Geiseln bisher körperlich gut. Aber auch Joni Asher weiß, dass dies täuschen kann. „Es liegen noch schwierige Tage vor mir“, sagt er. Er sei entschlossen, seiner Familie zu helfen, „sich von dem schrecklichen Trauma und dem Verlust, den wir erlitten haben, zu erholen – für die Zukunft meiner Töchter und meiner Frau“.
Angehörige anderer Freigelassener berichteten über die Situation vor Ort. „Es gab Tage, an denen es keine Vorräte gab, also aßen sie nur Fladenbrot. Sie wurden nicht gefoltert, aber es gab Tage, an denen sie kaum etwas zu essen hatten“, sagte eine Verwandte des neunjährigen Ohad dem Sender Channel 12.
Ohad war mit seiner Mutter und seiner Großmutter freigekommen. Der Großvater ist noch in den Händen der Hamas. Auf einem Video sieht man, wie Ohad im Krankenhaus auf seinen Vater zurennt. Der küsst ihn auf den Hals. In weiteren Aufnahmen sitzt der Bub umringt von Freunden und isst ein Eis. Schon vor seiner Freilassung kannten viele Israeli Ohads Geschichte. Während er im Gazastreifen festgehalten wurde, wurde in Tel Aviv sein neunter Geburtstag gefeiert. Dazu stellten Angehörige ein Bild mit 1500 Zauberwürfeln auf. Nun kann Ohad seinem Hobby wieder zu Hause nachgehen. Den ersten Zauberwürfel nach seiner Freilassung löste er im Krankenhaus im Beisein seiner Familie.