Der Metternich der Moderne

von Redaktion

VON ALEXANDER WEBER UND FRIEDEMANN DIEDERICHS

Washington/München – Es war zuletzt ziemlich ruhig geworden um den langjährigen Star-Diplomaten der Vereinigten Staaten. Aber ein letzter großer Auftritt in seiner Geburtsstadt Fürth war ihm vergönnt. Im Juni reiste Kissinger anlässlich seines 100. Geburtstages noch einmal nach Mittelfranken. „Es ist für mich sehr bewegend, in meinen Geburtsort zurückzugehen und zu erfahren, wie eng die Verbindungen geblieben sind zwischen dem Ort, wo ich geboren bin, und meiner neuen Heimat“, sagte er damals. Am Geburtshaus des Ehrenbürgers in der Mathildenstraße erinnert eine Tafel an den „wohl bekanntesten Fürther“, wie Oberbürgermeister Thomas Jung (SPD) Kissinger nennt. „Die Kleeblattstadt verliert einen Fürther, wie es ihn so schnell nicht mehr geben wird.“

Deutschland hat Henry Kissinger nie losgelassen. Der Bote aus der deutschen Botschaft in Washington kam immer montags ins State Department. Er brachte einen braunen Umschlag mit Stempel „Streng geheim“. Der Adressat: Außenminister Henry Kissinger. Inhalt: keine Diplomaten-Akten, keine Geheim-Dossiers – sondern die Fußball-Ergebnisse vom Wochenende aus Deutschland. Neben den Resultaten der 1. Bundesliga interessierte den Harvard-Professor stets besonders das Abschneiden seiner Fürther. Der Liebe zum Fußball und seiner Heimatstadt blieb Henry Kissinger ein Leben lang treu. Zu seinem 90. Geburtstag 2013 machte die Stadt ihrem Ehrenbürger ein besonderes Geschenk: den „Dr.-Henry-Kissinger-Platz“ vor der Feuerwache an der Königstraße.

Mit Kissinger verliert die Welt einen Außenpolitiker, Denker und rastlosen Krisen-Vermittler, der jahrzehntelang die internationalen Beziehungen wie wenige andere geprägt hat. Der Begriff „Urgestein“ drängt sich beim Blick zurück auf, allein schon wegen seiner äußeren Merkmale: der deutsche Akzent, die dicken Brillengläser, das souverän-überlegte Formulieren. Henry Kissinger hatte nicht nur aufgrund der Kraft seines Amtes Erkennungswert und Gravitas. Er hatte in seiner aktiven Zeit maximalen Einfluß – aber der Amerikaner war auch eine polarisierende Figur, an dessen historischer Bewertung sich bis heute die Geister scheiden.

Der Historiker Michael Stürmer beschrieb Kissinger einmal als einen Mann, der seinen „Blick auf Gegenwart und Zukunft durch die Erfahrung der Macht geschärft“ hat. Und er verglich ihn mit Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord und Klemens von Metternich, im 19. Jahrhundert Außenminister von Frankreich und Österreich. „Talleyrand und Metternich sind Kissingers Schwurhelfer. Er denkt in friedensorientierten Begriffen der klassischen Diplomatie: Gleichgewicht, Hegemonie, Kompensation, Legitimität des Status quo.“ Doch die Suche nach einer neuen Weltordung ist seit dem Fall der Mauer und dem Ende der bipolaren Welt kompliziert geworden.

Geboren 1923 in Fürth mit den Vornamen Heinz Alfred, floh Kissinger 1938 mit seinen jüdischen Eltern über London nach New York. 1943 trat er in die US-Armee ein und arbeitete als Übersetzer und Geheimdienst-Analytiker in Europa. Vier Jahre später kehrte er in die USA zurück und schrieb sich an der renommierten Harvard-Universität ein, wo er den Grundstein für seine spätere Karriere in der Politik legte und es zum Professor für Internationale Beziehungen brachte. 1968 wechselte er in die aktive Politik als Sicherheitsberater des republikanischen Präsidenten Richard Nixon. Beide wurden zu einem Tandem, das das US-Magazin „Time“ wegen der Unterschiede in ihrer Persönlichkeit als „eigentlich unvorstellbare Partnerschaft“ charakterisierte.

Die beiden veränderten dennoch gemeinsam den Stil der US-Außenpolitik maßgeblich. Entspannungs- und „Realpolitik“ waren angesagt. Gegenüber der Sowjetunion wurde die antikommunistische Ideologie hintangestellt, der Sowjet-Block als zweite Supermacht akzeptiert und deshalb nach Bereichen gesucht, in denen man mit Moskau verhandeln konnte.

Nixon machte sich die Geheim- und Pendeldiplomatie Kissingers zunutze, um sich Moskau und dann Peking anzunähern. Kissinger weitete diese Gespräche auch auf Nordvietnam aus, um die Chancen für eine Beilegung des opferreichen und Amerikas Gesellschaft aufwühlenden Krieges auszuloten. Gleichzeitig plädierte Kissinger gegenüber Nixon dafür, die US-Bombenabwürfe zu verstärken und den Krieg auf Kambodscha und Laos auszudehnen. Eine umstrittene Strategie: Der imperiale Machtanspruch Kissingers machte, wenn es für die USA opportun war, vor der Souveränität eines Staates nicht Halt. Später fand diese Methode in George W. Bush einen gelehrigen Nachahmer.

Vollends ins internationale Rampenlicht rückte der versierte Diplomat 1971, als seine gut gehüteten Kontakte zur chinesischen Führung publik wurden. Zwei Jahre später wurde ihm gemeinsam mit Le Duc Tho, seinem nordvietnamesischen Verhandlungspartner bei den Pariser Friedensgesprächen, der Friedens-Nobelpreis verliehen. Eine Ehrung mit fadem Beigeschmack: Der einstige US-Verbündete Südvietnam wurde wenig später zur Beute des kommunistischen Nordens. Ein zweites großes Krisen-Schlachtfeld war für den Außenminister der Nahe Osten: Kissinger spielte eine maßgebliche Rolle bei der Friedenssuche im Yom-Kippur-Krieg zwischen Israel, Syrien und Ägypten und engagierte sich danach jahrelang bei der Suche nach dauerhafter Entspannung in der Region. Ausgerechnet jetzt, in seinen letzten Lebenstagen, eskalierte der Konflikt völlig.

Doch das Bild des großen Diplomaten ist nicht ungetrübt. Vor allem Kissingers Vorgehen in der Dritten Welt rückte ihn ins Zwielicht: Im Kalten Krieg wurde dort die Fackel der Freiheit nicht selten mit fragwürdigen Mitteln hochgehalten. Nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ konnte so mancher Diktator mit US-Hilfe unter dem Deckmantel des Antikommunismus sein Unwesen treiben. Schwer wiegen auch die Vorwürfe wegen Kissingers Rolle beim Militärputsch 1973 in Chile, bei dem sich der sozialistische Präsident Salvador Allende das Leben nahm.

Als Richard Nixon schwer beschädigt durch den „Watergate“-Skandal 1974 zurücktrat, behielt Kissinger auch unter Gerald Ford seine Außenminister-Position und seinen massiven Einfluss. 1977 verließ er schließlich die große Politik, lehrte an der Georgetown-Universität und beriet mit seinem Consulting-Unternehmen „Kissinger Associates“ vor allem Firmen bei Auslandsgeschäften. Politisch blieb seine Meinung in den Machtzentralen der Welt gefragt, auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz war er oft zu sehen.

Dass er Humor besaß, hat der Harvard-Professor vielfach unter Beweis gestellt. „Mindestens vier US-Außenminister sind Präsidenten geworden“, sinnierte er einmal bei einem Empfang in Washington. Als gebürtigem Ausländer habe die Verfassung ihm bekanntlich den Weg ins Weiße Haus versperrt. Er habe damals als Außenminister aber „alle möglichen Tricks erwogen, um das zu umgehen“, scherzte der weißhaarige Machtmensch.

Seine deutschen Wurzeln hat Kissinger niemals vernachlässigt. Dennoch stellte er klar: „Ich bin Amerikaner und bleibe Amerikaner.“ 13 seiner Verwandten waren im Holocaust ermordet worden. Doch darüber redete er wenig: „Ich denke nicht mehr an die schlechten Dinge.“

Zu seinem Bild als „Polit-Star“ trugen auch seine Ausflüge auf die roten Teppiche der Glamour-Welt bei. Kissinger machte durch Kontakte zu Showstars wie Frank Sinatra sowie durch Frauengeschichten Furore; unter anderem soll er eine Affäre mit Gina Lollobrigida gehabt haben. „Macht ist das stärkste Potenzmittel“, pflegte er dazu lächelnd zu sagen.

Was wird von Henry Kissinger in den Geschichtsbüchern bleiben? Er selbst schrieb einst über Metternich, dieser habe uns gelehrt, dass „Politik auf Wissen beruhen mag, ihre Verwirklichung aber eine Kunst“ sei. Wenn das stimmt, ist mit Henry Kissinger ein großer Künstler von uns gegangen.

Kissinger soll im engsten Familienkreis beigesetzt werden, wie sein Beratungsunternehmen mitteilte. Eine Gedenkfeier solle später in New York stattfinden.

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