Die Todesakte Leonhard Widmann

von Redaktion

VON DIRK WALTER

München/Bruckmühl – „Gar keine Frage, das war Mord!“ Nikolaus Braun, Archivar des Bezirks Oberbayern, steht in seinem Büro. Vor ihm sitzt Waltraud Forstner. Sie ist eigens aus Schnürmann hergefahren, einem Weiler bei Bruckmühl im Kreis Rosenheim. Fassungslos sitzt sie vor einer dünnen Aktenmappe. „Obb. Heil- u. Pflegeanstalt Eglfing-Haar“, steht auf dem roten Aktendeckel. Und dann handschriftlich: Widmann, Leonhard. Eintritt 25. April 1942. Austritt: 19. Oktober 1943. Dahinter ein Kreuz über „die Art des Abgangs“: ein Kreuz als Symbol für den Tod. Ein dünnes Bleistift-Kreuz für Onkel Leonhard, der 1943 als Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie in Haar getötet wurde.

Leonhard Widmann war ein Onkel von Waltraud Forstner, den sie nie kennengelernt hat – sie ist ja erst nach dem Krieg geboren. Aber in der Familie ist der Leonhard bis heute nicht vergessen. Sein Name steht auch auf dem Familiengrab. Wie er zu Tode kam, das weiß freilich niemand so genau. Wollte vielleicht auch niemand. Ihre Oma, also die Mutter von Leonhard, so sagt Waltraud Forstner, hatte immer Selbstzweifel. „Sie wollte immer glauben, dass er an Lungenentzündung gestorben ist.“

Nachgefragt bei Behörden oder Archiven hat niemand. Bis dann in unserer Zeitung ein Bericht darüber erschien, dass der Bezirk Oberbayern die Morde an Behinderten und Kranken recherchiert hat und ein Gedenkbuch entstehen soll. Diesen Artikel las Forstner. „Auch mein Onkel ist in Haar ums Leben gekommen“, schrieb sie an unsere Redaktion, „und in meiner Kindheit habe ich schon viel von diesem Leid mitbekommen. Deshalb hab ich mir schon immer Gedanken gemacht, wie ich an weitere Informationen kommen kann.“ Wo genau man sich hinwenden könne, war ihre Frage. Das war vor zwei Monaten.

Eigentlich hat Waltraud Forstner wenig Zeit. Sie vermietet mit ihrem Mann Ferienzimmer („Urlaub auf dem Bauernhof“), muss 50 Stück Damwild versorgen und hat grad auch noch Handwerker im Haus. Aber: Dieser Geschichte mit dem Leonhard, der will sie jetzt endlich auf den Grund gehen.

Es dauert auch nicht lange, bis sie erfährt, was man zu Leonhard Widmann erfahren kann. Die Akte hat nur wenige Blatt Papier– aber sie zeigt, wie die nationalsozialistische Diktatur bis ins letzte Dorf, bis zum abgelegensten Bauernhof kam und ihre mörderische Wucht entfaltete.

Leonhard Widmann, so erfährt Forstner, starb in einem „Hungerhaus“. Er war am Ende so geschwächt, dass er sich Entzündungskrankheiten zuzog. Offiziell wurde der Familie als Todesursache „eitrige Bronchitis“ mitgeteilt. Die Akte enthält einen Einweisungsbeschluss, ein Aufnahmeblatt, ein Krankenblatt und ein Gewichtsblatt. Als Leonhard starb, wog er keine 56 Kilo wie bei seinem beschönigend genannten „Eintritt“ in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, sondern noch 38 Kilo. Der Sektionsbefund, der auch in der Akte liegt, erwähnt eine „hochgradige Abmagerung“ und Tuberkulose in beiden Lungenflügeln.

Archivar Braun hat oft Besuch von Menschen, die nach toten Verwandten fragen. Die nationalsozialistische „Euthanasie“ mit tausendfachem Mord an Behinderten und Kranken in sechs Tötungsanstalten lief offiziell bis August 1941. Die oberbayerischen Opfer kamen meist nach Schloss Hartheim bei Linz, wo sie vergast wurden. Dann wurden die Tötungen auch wegen der Proteste der Kirche, vor allem des Bischofs von Münster, Clemens Graf von Galen, zunächst gestoppt.

Was nicht so bekannt ist: Das Morden ging wenig später auf perfide Art weiter. Der Kaufbeurer Anstaltsleiter Valentin Faltlhauser verbreitete 1942 die Idee, für nicht arbeitsfähige Insassen eine sogenannte Hungerkost einzuführen. Der Leiter der Gesundheitsabteilung im bayerischen Innenministerium, Walter Schultze, erließ im November 1942 einen Hungerkost-Erlass. Die Essensrationen wurden herabgesetzt, es gab nur noch minderwertige Nahrung ohne Fett und Eiweiß. Der Haarer Anstaltsleiter Hermann Pfannmüller setzte die Richtlinie um: Ab Anfang 1943, sagt Archivar Braun, wurden die Häuser 22 (Frauen) und 25 (Männer) auf dem Haarer Anstaltsgelände zu Hungerhäusern. Haus 25 war vorher für ruhige und unauffällige Patienten vorgesehen – Leonhard Widmann wohnte darin seit seiner zwangsweisen Einlieferung nach Haar. Doch er blieb dort auch, als das Haus dem Hungertod geweiht wurde.

Leonhard Widmann wuchs als uneheliches Kind auf einem Bauernhof bei Bruckmühl auf. Waltraud Forstner hat ein Foto gefunden, es zeigt ihn als lustiges Kind in Lederhosen mit seinen Stiefgeschwistern. Gewiss, er war behindert, sagt sie. Aber das war nicht sehr ausgeprägt. „Schlampig geredet“ habe er, das hat sie von ihrer Mutter gehört. Heutzutage, sagt Forstner, würde Leonhard gefördert. „Das wäre ganz anders.“ Sie vermutet, dass ihre Oma unter Druck gesetzt wurde, den Leonhard wegzugeben.

Wie es wirklich war, erfährt sie aus dem Einweisungsbeschluss, den ihr Archivar Braun vorliest, denn er ist in Sütterlin geschrieben. Ein Medizinalrat Fuchs des staatlichen Gesundheitsamts Rosenheim berichtete am 13. März 1942 den Hergang. Demnach gab der Ortsbauernführer der damals eigenständigen Gemeinde Holzham – zu der der Bauernhof gehörte, auf dem Leonhard lebte – der NSDAP-Kreisleitung den Hinweis, von dem damals 18-jährigen „Idioten“ Leonhard Widmann gehe eine „Gefahr für Sicherheit und Eigentum“ aus und er müsse untergebracht werden. Also wahrscheinlich eine Denunziation – der Ortsbauer hat Leonhard hingehängt. Als Waltraud Forstner das hört, sagt sie spontan: „Den muss ich finden.“ Sie will in der Gemeinde nachfragen. Sie will den Namen. Denn danach ging es sehr schnell. Leonhard wurde vom staatlichen Gesundheitsamt begutachtet, am 13. März 1942 wurde der Einweisungsbeschluss unterzeichnet. Einen guten Monat später war Widmann in Haar.

Wie es ihm dort erging, lassen die wenigen Dokumente nur erahnen. Niemand kümmerte sich um Leonhard. Wie auch, bei 2500 Patienten und gerade einmal vier Ärzten? In einem Saal mit vielleicht 50 anderen behinderten Menschen. „Manchmal lacht er blöd, manchmal kommt ihm das Weinen“, so eine Notiz vom März 1943. Mit Bleistift hat jemand, wohl ein Pfleger, notiert: „Verlangt nach seinem Vater.“ Der aber, soweit man weiß, nie kam. Am 22. Oktober 1943, drei Tage nach seinem Tod, wurde Leonhard Widmann beerdigt.

Etwa 400 Hungertote gab es allein in Haar. Anstaltsleiter Pfannenmüller hat in seiner Zeit als Gutachter über Behinderte mehrere tausend Personen anhand von Meldebögen begutachtet und Tötungsempfehlungen ausgesprochen. Er erhielt später eine Verurteilung zu sechs Jahren Haft – abgegolten durch die Untersuchungshaft.

Braun legt ein Buch auf den Tisch, das Beerdigungsjournal. Jeder Tote aus Haar ist dort verzeichnet. Leonhard Widmann hat die Nummer 4955. Sektion 8, Reihe 2, Grab 59 – auf dem Anstaltsfriedhof Haar wurde er von einem katholischen Seelsorger beerdigt. Also nicht im Familiengrab, wie es Waltraud Forstner annahm. Leonhards Grab gab es 14 Jahre lang, dann wurde es aufgelöst.

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