Netanjahus Kriegskurs auf tönernen Füßen

von Redaktion

VON KLAUS RIMPEL aus Tel Aviv

Tel Aviv – Die Digitaluhr über den Köpfen der Demonstranten zählt unerbittlich die Sekunden: 63 Tage, 12 Stunden, 30 Minuten und 24, 25, 26 Sekunden… Es ist die Uhr, die den Israelis ins Bewusstsein hämmern soll, wie lange schon 137 ihrer Landsleute und thailändische Gastarbeiter in den Fängen der Hamas sind. Es ist Samstagabend auf dem Platz, den die Israelis jetzt „Platz der Entführten“ nennen. Und die in Tel Aviv allgegenwärtige Bewegung „Bring them home“ (Bringt sie nach Hause) macht mit einer Demonstration Druck auf Premier Benjamin Netanjahu, mehr für die Freilassung der Geiseln zu tun, die seit dem Terror vom 7. Oktober in der Hand der islamistischen Terror-Armee sind.

Melancholische Lieder schweben über den Platz. Viele Demonstranten haben Tränen in den Augen, als sie den Reden von Angehörigen der Geiseln lauschen. Die Trauer mischt sich mit Wut, als von einer anderen Seite rund 300 Demonstranten auf den Platz zumarschieren und ihr „Bring them home!“ wie einen Schlachtruf skandieren. Es ist die erste Demonstration gegen den Kriegskurs der Regierung seit Beginn der Militär-Offensive in Gaza.

Auch bei den deutsch-israelischen Angehörigen, die CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt kurz vor der Demo auf dem Platz der Entführten trifft, ist diese Wut zu spüren: „Wir erwarten von der Regierung, sich um die Geiseln zu kümmern! Sie kann es sich nicht leisten, noch einmal so zu versagen wie am 7. Oktober“, sagt Naama Weinberg. Als die 27-jährige Architektur-Studentin das sagt, bricht ihre Stimme – vorher, als sie erzählte, wie ihr 36-jähriger Cousin Itai von den Islamisten verschleppt wurde, wirkte sie noch erstaunlich gefasst.

Seit die Feuerpause beendet ist, in der 105 Geiseln freikamen, steigt die Angst um die verbliebenen Hamas-Gefangenen. „Alle anderen, die mit Itai zusammen waren, sind freigelassen worden. Er ist jetzt absolut allein“, sagt Naama Weinberg. Die Kämpfe würden auch die Geiseln in große Gefahr bringen.

Doch die Mehrheit der Israelis steht noch klar hinter der Militäraktion gegen die Hamas, auch wenn der Druck aus dem Ausland angesichts der Bilder vom Leid der Zivilisten in Gaza steigt. Die Sicherheitsexperten und Politiker, mit denen sich Dobrindt trifft, weisen die Bedenken der Uno oder der US-Regierung zurück: „Zerstört die Hamas, aber schont alle Zivilisten? Wer mir erklärt, wie das funktionieren soll, der hat den Nobelpreis verdient, und zwar für Physik, weil das einfach unmöglich ist“, spottet ein Ex-Militär im Hintergrundgespräch.

Dobrindt ist auch gekommen, um ein Zeichen zu setzen, dass in Deutschland nicht nur die Regierung, sondern auch die Union als stärkste Oppositionskraft das militärische Vorgehen Israels unterstützt. „Israel muss diesen Krieg gegen den Terror mit aller Kraft führen, um die Hamas zu zerstören“, sagt Dobrindt. „Wir sollten sehr vorsichtig sein mit Ratschlägen an die Adresse von Israel.“ Der Staat kämpfe um seine Existenz. „Waffenstillstand bedeutet leider, dass die Hamas und damit der Terror überleben wird, so schwer das für viele zu verstehen ist.“

Nicht nur die Politiker in Israel hören diese Botschaft angesichts zunehmender internationaler Proteste gerne. Als Dobrindt und seine beiden Referenten mit deutsch-israelischen Stickern am Revers auf dem Platz der Entführten stehen, schütteln Passanten ihnen die Hände: „Danke, Solidarität ist jetzt so wichtig.“

Sonntag, Grenze zum Gazastreifen: Wir fahren über die Straße, auf der am 7. Oktober neben Autos die Leichen der niedergemetzelten Israelis lagen. An einem Checkpoint wird deutlich, wie sehr selbst israelische Soldaten mit dem Dilemma kämpfen, vom Terror zum Töten gezwungen zu werden. Hier stärken sich die Soldaten nach dem Einsatz mit Kaffee, ein Käfig mit Nymphensittichen soll so etwas wie friedliche Atmosphäre schaffen, während direkt neben uns Artillerie wummert und über uns ein Hubschrauber eine Hellfire-Rakete Richtung Gaza abfeuert.

Einer der jungen Männer, die so hartgesotten aussehen, kämpft mit den Tränen, als er Dobrindt von seinem letzten Einsatz erzählt: Als die Israelis einen Tunnel stürmen wollten, kam plötzlich ein vierjähriges Mädchen aus dem Loch. „Die Hamas-Leute haben das Kind vorgeschickt, damit wir es erschießen. Sie scheren sich nicht um ihre eigenen Leute.“ Das Kind hatte etwas in der Tasche, vielleicht eine Handgranate? Die Soldaten schossen dennoch nicht – und der Soldat erzählt stockend, dass er weinen musste, als er sah, dass das Kind nur einen Apfel in der Tasche hatte. Dann sagt er noch: „Meine Oma war in Auschwitz. Danke, dass ihr da seid.“

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