Tel Aviv – Alon Gat wirkt wie ein Touristenführer, als er Alexander Dobrindt (CSU) und die mitgereisten Journalisten durch den Kibbuz seiner Familie führt. Aber der 37-Jährige mit seinem Wuschelkopf und seinem sanften Lächeln zeigt uns nicht die Schönheiten, die es an diesem Ort vor dem 7. Oktober noch gegeben haben mag. Er zeigt uns die Hölle.
Alon besuchte an diesem Tag mit seiner Frau Yarden Romann und seiner dreieinhalbjährigen Tochter Geffen seine Eltern im Kibbuz Be‘eri. Ein Familienfest war geplant, Schwester Carmel (39) war schon da. Die beiden wollten frühmorgens um 6 Uhr zum Joggen, dann kam der Alarm.
Es ist das erste Mal, seit Alon hier dem Tod nur knapp entrann, dass er an den Ort des Grauens zurückkehrt: Am zerstörten Haus, vor dem in all den Trümmern noch Geffens Kinderschaukel baumelt, bittet Alon, kurz allein gelassen zu werden. Die Gefühle übermannen ihn. Nach einigen Minuten kehrt er aus der Ruine zurück und zeigt uns, wie er sich mit Geffen in dem „Safe Room“ versteckte, der vor Raketensplittern schützt – aber nicht vor Terroristen. Die Tür zum in jedem israelischen Haus vorgeschriebenen Sicherheitsraum lässt sich nicht verschließen.
Alon beschließt, sich den Terroristen zu stellen, um Geffen zu schützen. Er versteckt seine kleine Tochter unter einer Decke im „Safe Room“ und geht mit erhobenen Händen zu den herumschießenden und alles zerstörenden jungen Palästinensern – in der Hoffnung, dass sie nicht weitersuchen. Alon zeigt uns, wie er im Vorgarten gefesselt wurde, wie er seine Füße so auseinander stellte, dass die Fessel locker wird. Aber die Hoffnung, seine Kleine schützen zu können, ist vergebens. Als die Terroristen ihn in einen Truck verladen, schleppen sie auch seine Frau Yarden an – die Geffen auf dem Arm hat.
Als der Truck losfährt, schaffen es Alon und seine Frau, ihre Fesseln zu lösen. Sie springen von der Ladefläche des fahrenden Autos, rennen um ihr Leben, neben ihnen schlagen Schüsse ein. Yarden gibt Alon die Tochter, er kann schneller rennen. Alon sieht noch, wie seine Frau sich hinter einem Baum versteckt – und dann, wie die Terroristen sie einholen.
Er rennt und rennt, 20 Minuten lang. Dann verstecken sich Vater und Tochter in einem Graben. Dort bleiben sie 28 Stunden lang – ohne Essen und Trinken. So lange dauert es, bis endlich die israelische Armee kommt. „Geffen war großartig, sie hat die ganze Zeit nicht geweint und geklagt. Sie verstand, dass sie still sein muss.“
Nächste Station der Horror-Führung: eine Straßenkreuzung am Rand des Kibbuz: Alon deutet auf eine Wiese am Straßenrand: „Hier erschossen sie meine Mutter.“ Die Leiche lag barfuß neben anderen toten Frauen. Unerträglich für ihn sei, dass während des stundenlangen Gemetzels palästinensische Teenager aus Gaza dazugekommen seien, um sich ungerührt das Geschehen anzuschauen und dann Fahrräder oder Spielzeug zu stehlen.
Nach 56 Tagen die Erlösung: Die Hamas lässt Yarden frei. Wochenlang wusste sie nicht, ob ihr Mann Alon und Geffen noch leben – ihr Wiedersehen wird zum Fest für ganz Israel. Geffen sei „einfach perfekt“, sie und seine Frau seien erstaunlich stark, sagt Alon stolz. „Gerade jetzt bringt Yarden unsere Tochter in den Kindergarten. Das Leben geht weiter.“ Doch ein Happy End wie in Hollywood lässt der reale Terror nicht zu: Mit Alons Mutter wurden mehr als 100 der 1100 Einwohner des Kibbuz Be’eri ermordet. Und seine Schwester Carmel ist noch immer irgendwo im Gazastreifen gefangen. Befreite Geiseln erzählten, dass Carmel Mitgefangenen hilft, indem sie mit ihnen Yoga macht. „Wir sind optimistisch“, sagt Alon und zeigt sein trauriges Lächeln. KLAUS RIMPEL