Die Jagd nach der Abnehmspritze

von Redaktion

VON BEATRICE OSSBERGER

München – „Wegovy?“ Peter Sandmann schüttelt den Kopf. „Das habe ich überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen.“ Sandmann ist im Vorstand des Bayerischen Apothekerverbands und betreibt in München drei Apotheken. Im Computer überprüft er, ob er Wegovy denn bestellen könnte. „Nein“, sagt er. „Das Medikament ist nach wie vor nicht lieferbar.“

Anruf im Zentrum für Ernährungsmedizin und Prävention (ZEP) im Krankenhaus Barmherzige Brüder in München. Hier werden im Jahr rund 2000 Adipositas-Patienten behandelt, das ZEP gehört zu den größten ernährungsmedizinischen Zentren in Deutschland. Doch auch hier winkt der ärztliche Leiter Gert Bischoff ab. „Aufgrund der großen Lieferschwierigkeiten habe ich Wegovy bisher nicht verschrieben“, sagt er. „Ich denke, da geht es mir wie den meisten Ärzten in Deutschland.“

Dem Hype um die sogenannte Abnehmspritze tut die Knappheit keinen Abbruch. Zu verlockend ist das Versprechen, mit dem in Wegovy (und auch dem etwas leichter dosierten Schwestermedikament Ozempic) enthaltenen Wirkstoff Semaglutid mühelos Gewicht zu verlieren. US-Promis, Youtuber und Tiktoker überbieten sich mit Berichten, wie mühelos sie mit Semaglutid abgenommen hätten. Das beflügelt das Interesse normalgewichtiger Menschen enorm.

Gedacht ist das verschreibungspflichtige Präparat eigentlich für krankhaft übergewichtige Erwachsene mit einem Body-Mass-Index (BMI) ab 30. In der EU ist Wegovy auch für Erwachsene ab einem BMI von 27 zugelassen, sofern eine gewichtsbedingte Begleiterkrankung vorliegt.

Die Spritze mit ihrem Wirkstoff Semaglutid gilt als „Gamechanger“, also Wendepunkt, in der Adipositas-Therapie. Semaglutid zügelt den Appetit, indem es im Gehirn ein Sättigungsgefühl erzeugt und die Magenentleerung verlangsamt. „Es ist tatsächlich das erste wirksamere Medikament zur Gewichtsreduktion bei krankhafter Fettleibigkeit“, sagt Min-Seop Son, Leiter der AMC Wolfartklinik, ein Zentrum für Adipositas- und Metabolische Chirurgie in Gräfelfing. Aber um zu helfen, sagt Son, müsste es auch verfügbar sein. „Wegovy kann ein weiterer Baustein in der Adipositas-Therapie werden“, sagt auch Gert Bischoff – aber, betont er: „Das Präparat ist kein Wundermittel, das die Kilos wie von Zauberhand verschwinden lässt.“ (s. Interview)

Als Grund für die Lieferprobleme gibt der Hersteller, der dänische Pharmakonzern Novo Nordisk, die weltweit hohe Nachfrage an. In Deutschland war Wegovy schon wenige Wochen nach der Markteinführung quasi ausverkauft. Zwar will der Konzern nun seine Produktion im französischen Chartres erweitern, aber die Arbeiten haben gerade erst begonnen.

Apotheker Sandmann hat noch einen Verdacht. Er verweist darauf, dass Wegovy in Deutschland mit 328 Euro im Monat wesentlich günstiger ist als in den USA, wo die Monatsdosis 1240 Euro kostet. „Da ist klar, auf welchem Markt der Hersteller mehr verdient“, sagt Sandmann. Auch findet er es fragwürdig, dass sich das Unternehmen beim Wirkstoff Semaglutid selbst Konkurrenz macht. Semaglutid kommt ursprünglich aus der Diabetes-Forschung und ist als Ozempic seit mehreren Jahren als Medikament für Typ2-Diabetiker, der häufigsten Diabetesform, auf dem Markt. Der Hersteller: Novo Nordisk.

Semaglutid senkt den Blutzucker so effektiv, dass Diabetiker ihre Tagesdosis Insulin stark verringern können. „Ich konnte um die Hälfte reduzieren“, sagt Inge Hölzl aus dem niederbayerischen Landau an der Isar. Die 63-Jährige schwärmt, wie Ozempic ihr Leben verbesserte. Sie habe sich so fit und gesund gefühlt wie lange nicht. Tatsächlich, sagt Apotheker Sandmann, sei Ozempic ein sehr wirksames Diabetes-Medikament, das auch Risiken wie Unterzuckerung verringere. Eine Alternative für dieses Medikament gebe es derzeit nicht.

In Ozempic ist Semaglutid geringer dosiert als in der Abnehmspritze Wegovy – doch auch diese Dosis genügt zum Abnehmen – und Nicht-Diabetiker haben das Medikament als Appetitzügler entdeckt, was die ohnehin angespannte Versorgungslage verschärft. Für Diabetiker wird es immer schwieriger, das Medikament zu bekommen.

Nico Petermann, Diabetiker aus Gröbenzell, berichtet, er habe alle Apotheken in der Umgebung abgeklappert. „Die hatten nichts“, sagt er. Der 48-Jährige hatte Glück. Er nahm sein Rezept zu einem Familienbesuch nach Diesdorf in Sachsen-Anhalt mit und ging dort in eine kleine Apotheke. „Dort habe ich tatsächlich Ozempic bekommen. Das war wie ein Sechser im Lotto.“ Sein Vorrat reicht für drei Monate. Wie es dann weitergeht, weiß er nicht.

Inge Hölzl muss auch regelmäßig warten. „Die Situation ist wirklich schlimm“, sagt sie. Gibt es kein Ozempic, muss sie auf alte Präparate zurückgreifen – inklusive aller Nebenwirkungen. „Ich habe große Angst, dass ich die gewonnene Lebensqualität wieder verliere.“

Novo Nordisk erklärte, es sei nicht absehbar, wann die unerwartet hohe Nachfrage gedeckt werden könne. Die Geschäfte laufen also gut. Anfang September stieg der Konzern zum wertvollsten Unternehmen Europas auf. 2024 soll Wegovy auch in Frankreich auf den Markt kommen – und in Japan. Von dort aus will der Konzern den asiatischen Markt aufrollen.

Nachtrag: Nach dem Besuch in der Apotheke von Peter Sandmann erreicht uns eine E-Mail. Er habe für einen Patienten eine einzige Packung Wegovy bestellen können. „Das wesentlich wichtigere Ozempic aber ist nach wie vor nicht lieferbar.“

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