„Der Digitalisierungswahn ist naiv“

von Redaktion

INTERVIEW Nach dem erneuten Pisa-Schock: Prof. Klaus Zierer über die Fehler im Schulsystem

München – Ein Schultest schockt Deutschland: Beim jüngsten Pisa-Vergleich mit dem Schwerpunkt Mathematik sind deutsche Schüler auf ein Mittelmaß abgerutscht – gefühlt Lichtjahre entfernt vom Sieger Singapur. Jetzt ist das Rätselraten groß, was zu tun ist. Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, fordert im Gespräch mit unserer Zeitung ein langfristiges Umdenken im Schulsystem.

Herr Zierer: Was hat das Pisa-Ergebnis mit dem Migrationsanteil an unseren Schulen zu tun?

Es ist längst bekannt, dass Bildungserfolg im Zusammenhang mit einem Migrationshintergrund steht, obschon zu beachten ist: Es gibt Migrationshintergründe, die förderlich und die hinderlich für Bildung sind. Das hat damit zu tun, dass je nach Herkunftsland eine unterschiedliche Bildungskultur gegeben ist, die auf die Schüler in den Familien wirkt. Dennoch halte ich es für zu kurz gegriffen, allein an diesem Aspekt die Pisa-Ergebnisse zu erklären.

Warum?

Es gibt andere Aspekte, die schaden, etwa eine unreflektierte Digitalisierung der Lebenswelt.

Was kritisieren Sie dabei konkret?

Eine Digitalisierung, die nur auf die Technik schielt, ist naiv, weil sie verkennt, dass im Bildungsbereich entscheidend für die Wirksamkeit der Technik die Pädagogik ist. Wir haben jetzt – angestoßen durch die Corona-Pandemie – mehrere Milliarden an digitalen Geräten in die Schulen gebracht, ohne auch nur im Ansatz zu untersuchen, wie das wirkt. Ganz im Gegenteil: Häufig wurden in einem Digitalisierungswahn – der dem Gebot folgt, so schnell wie möglich und so viel wie möglich zu digitalisieren – empirische Ergebnisse schlicht und ergreifend weggewischt.

Was läuft da verkehrt?

Als Beispiel ist hier die PowerPoint-Diktatur zu nennen, die vielerorts zum schlechtesten Frontalunterricht aller Zeiten führt. Oder die PDF-Flut, die zu einem Lesen an digitalen Geräten führt, das nachweislich weniger lernförderlich ist als das Lesen von Papier. Das muss sich dringend ändern.

Welche Aspekte zahlten noch auf das schlechte Ergebnis ein?

Eine negative Tendenz ist auch ein abnehmendes Bildungsklima in Elternhäusern, in denen im Schnitt zum Beispiel nicht mehr so viel gelesen wird wie früher. Es gibt ferner zunehmende Probleme in der Besetzung von Schulleitungsstellen, die aber entscheidend für gute Schulen sind. Ärgerlich sind Mythen in der Unterrichtsgestaltung, wie beispielsweise Schreiben nach Gehör, die nachweislich mehr schaden als nutzen.

Waren auch die Schulstilllegungen in der Corona-Pandemie ein Faktor?

Sicher. Auch wenn es bereits in den letzten zehn Jahren eine Tendenz in den internationalen und nationalen Schulstudien gegeben hat, wonach die Lernleistungen sinken. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben diese negativ verstärkt. Glaubten während der Pandemie führende Politiker, dass die Kinder das schon wegstecken würden und taten daher entsprechende Warnhinweise schnell ab, so ist heute sichtbar und unzweifelhaft: Schulschließungen haben Bildungsverläufe massiv beeinträchtigt.

Trifft das alle gleich?

Nein. Besonders stark betroffen sind Kinder aus bildungsfernen Milieus mit geringen Lernleistungen und in den untersten Jahrgangsstufen. Am wenigsten beeinträchtigt waren Jugendliche aus bildungsnahen Milieus mit guten Lernleistungen und in den höheren Jahrgangsstufen.

Welche Gegenmaßnahmen schlagen Sie vor?

Bildungserfolg ist ein komplexes Geschehen, das von den Lernenden, den Elternhäusern, den Schulen und den Lehrplänen, den Schulleitungen, den Lehrpersonen und der Bildungspolitik abhängt. Es gibt keine einfachen Lösungen, die auf die Schnelle eine Verbesserung herbeiführen würden. Das muss man ganz klar sagen.

Was heißt das?

Wir werden mit Herumdoktern die Bildungskrise, wie sie sich derzeit zeigt, nicht beheben können. Wenn der Karren zu tief im Dreck steckt, hilft auch Schieben nichts mehr. Wir müssen größer und umfassender, ja visionärer denken und bei der Lehrerbildung, der Elternarbeit, den Lehrplänen, der Schulleitung ansetzen. Dies setzt vor allem Mut von den politischen Entscheidern voraus. Da das erst für die nächste Generation helfen wird und daher mittel- und langfristig angelegt ist, sind aber auch kurzfristige Maßnahmen zu ergreifen.

Woran denken Sie?

Kurzfristig sind Förderprogramme hilfreich, die das fachliche Lernen in den Blick nehmen – aber nicht nur, sondern auch Lernhaltungen. Sommerschulen beispielsweise haben ein großes Potenzial. Man muss sie aber anders und damit besser machen, als es vereinzelt während der Corona-Pandemie passiert ist. Den Schulen Geld zu geben und sie dann damit alleine zu lassen, ist bildungspolitisch unverantwortlich. Es braucht hier ein klares Konzept, das Personal beispielsweise durch fortgebildete Studierende anbietet.

Konservative Bildungsexperten murren, die Leistungen in Bayern seien gar nicht so schlecht. Sollte der Pisa-Test speziell nach Bundesländern ausgewertet werden wie früher?

Nein, das ist nicht nötig. Pisa hat keinen systemischen Ansatz. Aus diesem Grund können nicht wirklich Schlussfolgerungen auf die Bildungssysteme der teilnehmenden Länder gezogen werden, auch wenn es immer wieder getan wird. Nach über 20 Jahren Pisa und der Tatsache, dass es faktisch zu keinen positiven Effekten im Bildungsbereich geführt hat, ist allerdings zu fragen, ob dieser Test in Zukunft noch sinnvoll ist.

Interview: Dirk Walter

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