München – Im kommenden Jahr will die Union entscheiden, wer sie in die nächste Bundestagswahl führt. Einer der Kandidaten: Hendrik Wüst (48), seit 2021 Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Anders als Friedrich Merz gehört er nicht zum konservativen Flügel der CDU. Beim Besuch unserer Redaktion gibt er sich bodenständig, die bayerischen Weißwürste verteilt der Gast gleich selbst. Wie tickt eigentlich der Mann, der Deutschland in ein paar Jahren führen könnte?
Herr Wüst, Alt-Bundespräsident Christian Wulff hat einmal gesagt: „Der Islam gehört zu Deutschland“. Erinnern Sie sich?
Natürlich.
Die CDU unter Friedrich Merz will davon im neuen Grundsatzprogramm nichts mehr wissen. Jetzt ist wieder von „Leitkultur“ die Rede. Was sagt der Ministerpräsident von NRW, in dessen Metropolen viele Muslime leben?
Gerade weil unsere Gesellschaft immer diverser und bunter wird, ist es wichtig, einen Grundkonsens zu haben. Eine gemeinsame Wertebasis, um friedlich zusammenzuleben. Wir sind ein freiheitlich-demokratisch geprägtes Land – sonst würden nicht so viele Menschen zu uns kommen.
Das heißt: Der Islam gehört zu Deutschland – aber nur einer, der sich an deutsche Spielregeln hält?
Das gilt für alle Religionen, die der Staat ja ausdrücklich schützt. Fest steht aber: Dieser Staat muss auch seine Grundwerte verteidigen.
Zum Beispiel?
Die Akzeptanz anderer Religionen und unserer freien Gesellschaft mit ihren demokratischen Werten, wie der Gleichberechtigung von Frauen, anderen Lebensentwürfen und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Auch das Existenzrecht Israels gehört zu diesem Grundkonsens.
Angesichts der Palästinenser-Proteste muss man leider Zweifel anmelden. Was ist zu tun?
Es muss klar sein: Wer sich nicht zum Existenzrecht Israels bekennt, kann kein deutscher Staatsbürger werden. Zudem sollte die Leugnung des Existenzrechts Israels im Strafrecht in den Volksverhetzungsparagrafen aufgenommen werden. Zu beiden Punkten hat Nordrhein-Westfalen eine Initiative in den Bundesrat eingebracht.
In der Asylpolitik grenzt sich die CDU jetzt deutlich von der Ära Merkel ab. Sie hatten die Altkanzlerin und ihre Politik in einem Artikel für die „FAZ“ sehr gelobt. Wer hat denn nun Recht, Merz oder Merkel?
Die Situation 2023 ist eine andere als 2015. Dennoch bleibt es dabei: Wir wollen für Menschen, die vor Krieg und Vertreibung fliehen, ein sicherer Ort sein. Aber wir dürfen uns nicht überfordern. Wir müssen klar unterscheiden zwischen jenen Menschen, die vor Krieg fliehen, und jenen, die aus anderen Gründen zu uns kommen. Wir können die Armut und die Not der Welt nicht allein über unser Asylrecht lindern.
Heißt konkret?
Der Bundeskanzler muss jetzt das umsetzen, was er mit den Regierungschefinnen und -chefs der Länder vereinbart hat – inklusive einer ehrlichen Prüfung einer Drittstaatenregelung. Das bedeutet: Flüchtlinge sollten bereits in Partnerländern entlang der Fluchtrouten ein rechtsstaatliches Asyl-Verfahren bekommen – bevor sie in Deutschland sind.
Bis so etwas installiert ist, vergeht viel Zeit. Aber allein 2022 ist die Zahl der Leistungsempfänger um 21 Prozent gestiegen.
Es gibt Maßnahmen, die kurzfristig wirken, beispielsweise die aktuell erfolgreichen Grenzkontrollen. Dennoch: Mittelfristig ist es notwendig, Herkunftsländer, aus denen nur fünf Prozent aller Anträge bewilligt werden, automatisch als sicher einzustufen. Wir brauchen dafür am besten eine verbindliche gesetzliche Regelung.
Offenbar haben die Grünen die vom Kanzler angekündigte Abschiebe-Offensive verhindert.
Ich erwarte, dass Olaf Scholz seine Vereinbarung einhält und einen Gesetzentwurf in den Bundestag einbringt.
Hat Scholz die Kraft?
Die Ampel muss endlich aufhören, ihre Probleme zu den Problemen des Landes zu machen – und stattdessen die Probleme der Menschen zu ihren Problemen machen. Das Wahlergebnis in den Niederlanden sollte uns Lehre und Warnung zugleich sein.
Was meinen Sie?
Die Regierung Mark Rutte ist an der Migrationspolitik gescheitert. Hinzu kamen vor allem Themen der sozialen Sicherheit.
2024 stehen die Europawahl und die Landtagswahlen im Osten an.
Wir haben diesen Winter Zeit, mit einer Allianz der Mitte das Migrationsthema in die richtige Richtung zu lenken – ohne Formelkompromisse. Alle Parteien müssen ihre Hausaufgaben machen. Ich bin sicher, dass es einen Konsens der Demokraten für entschlossenes Handeln bei der Migration geben kann. Ich glaube auch: geben muss.
Sie führen in NRW eine geräuschlos arbeitende schwarz-grüne Koalition an. Boris Rhein in Hessen hingegen hat die Grünen aus der Regierung geworfen. Geht die Zeit gerade ein wenig über Schwarz-Grün hinweg?
Die Zusammenarbeit zwischen CDU und Grünen in Nordrhein-Westfalen funktioniert sehr gut. Hessen und Bayern zeigen, dass die Union überall stabile Regierungen bilden kann, unabhängig von der Partnerpartei. Bei uns mit den Grünen, in Hessen mit der SPD oder in Bayern mit den Freien Wählern. Führen heißt in diesen Zeiten zusammenführen.
Markus Söder hatte eine Koalition mit den Grünen ausgeschlossen. Was heißt das für den Bund?
In Bayern lag es nahe, ein erfolgreiches Bündnis fortzusetzen. Mit Blick auf die Bundestagswahl ist die CDU klug beraten, sich eine Zusammenarbeit mit den Grünen offenzuhalten. Das gilt natürlich auch für Bündnisse mit SPD und FDP. Diese Bereitschaft muss für die Union immer da sein.
Herr Wüst, spielen Sie eigentlich Fußball?
Ich war Handballer.
Wir fragen, weil Markus Söder auf die K-Frage der Union ein Fußballer-Bild bemüht hat. Kanzlerkandidat solle derjenige werden, dem man am ehesten zutraut, einen Elfer reinzuhauen. Im Handball also einen Siebenmeter.
Beim Siebenmeter schaut man dem Gegner tiefer in die Augen. Es kommt sehr auf Raffinesse und Entschlossenheit beim Wurf an. (lacht).
Merz ist Partei- und Fraktionschef. Ist er damit auch automatisch designierter Elfmeterschütze?
Friedrich Merz führt Partei und Fraktion erfolgreich. Was 2021 gewesen ist, darf sich nicht wiederholen – da sind wir uns in der Union einig. Daher sollte auch unsere Verabredung Bestand haben: Wer uns in die nächste Wahl führt, entscheiden wir im Jahr vor der Bundestagswahl.
Sie sind im Ton verbindlicher und in der Sache nicht so kantig wie Merz. Sie sagen, der Kandidat muss zusammenführen – aber braucht es mit Blick auf die AfD nicht auch ein klares konservatives Profil?
Das eine schließt das andere nicht aus. Anstatt weiter die Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben wie etwa die Führung der Ampel, muss man an der Spitze dieses Landes einen breiten Konsens schaffen, emphatisch kommunizieren und zusammenführen können – anders als der jetzige Kanzler…
Mit Verlaub, das klingt jetzt nicht nach Merz.
Möglicherweise unterschätzen Sie einfach Friedrich Merz und seine Fähigkeiten! In der jetzigen Situation kommt es gerade auf die Union als Stabilitätsanker an. Die CDU muss in der Mitte breit aufgestellt sein. Sie muss junge Menschen, Frauen und Großstädter genauso erreichen wie die Menschen auf dem Land, Rentner, Arbeiter. Das ist der Volksparteianspruch, den die CDU mit den erfolgreichen Kanzlern Helmut Kohl und Angela Merkel über Jahrzehnte so erfolgreich erheben konnte, dass man uns im Ausland dafür beneidet hat. Wir sollten daran anknüpfen. Es würde auch Deutschland guttun, wieder eine politische Kraft an der Spitze der Regierung zu haben, die eine breite Rückendeckung in der Gesellschaft hat.
Deklinieren wir’s doch mal an Themen durch! Stichwort Bürgergeld: Brauchen wir mehr Sanktionen oder eine Arbeitspflicht, wie CDU-Generalsekretär Linnemann gefordert hat?
Das Prinzip „Fördern und Fordern“ muss wieder stärker gelebt werden, völlig richtig. Der geringe Abstand zum Erwerbseinkommen ist für viele kein ausreichender Anreiz mehr, sich zum Beispiel als Bäckergeselle in aller Frühe in eine Backstube zu stellen.
Und wie lösen Sie das? Ricarda Lang würde sagen: Mindestlohn erhöhen!
Das Bürgergeld sollte der Existenzsicherung dienen, damit niemand ins Bodenlose fällt. Es kommen ja noch weitere Zahlungen wie das Wohngeld, das Kindergeld und der Kinderzuschlag dazu. Das führt zum Teil dazu, dass sich diese Einkünfte zu wenig von manchen Gehältern unterscheiden. Da schwindet der Anreiz.
Stichwort Schuldenbremse: Muss sie gelockert werden, wie Ihr Berliner CDU-Kollege Kai Wegner sagt?
So hat er das glaube ich nicht gesagt. Ich bin jedenfalls ein großer Fan der Schuldenbremse, weil sie uns daran erinnert, dass jede Generation mit dem Geld auskommen muss, das sie selbst erwirtschaftet.
Aber was ist mit dem Investitionsstau, zum Beispiel bei der Infrastruktur?
Uns fehlt es in erster Linie an fertigen Planungen. Ich war selbst NRW-Verkehrsminister und habe immer wieder feststellen müssen, dass das entscheidende Hemmnis das viel zu komplizierte Planungsrecht und eine überbordende Bürokratie ist.
Lassen Sie uns ein wenig über Vorbilder reden. Markus Söder hatte ein Poster von Franz Josef Strauß über seinem Bett hängen. Sie wohl nicht. . .
Sie werden überrascht sein: Mein Vater war glühender Franz-Josef-Strauß-Fan. Es war eine sichere Bank, ihm Kassetten oder Bücher mit Strauß-Reden zu schenken.
Hat das auf den Sohn abgefärbt?
Ich war eher die Generation Edmund Stoiber. Mich hat beeindruckt, mit welchem Engagement er als Ministerpräsident den Freistaat Bayern zukunftsfest aufgestellt hat. Das war vorbildlich.
Uns fällt auf, dass Sie ein gutes Verhältnis zu Markus Söder pflegen.
Ich kenne ihn bereits, seit ich Mitte 20 war. Wir verstehen uns gut und sind befreundet. Er ist zudem ein starker Ministerpräsident für Bayern.
Angeblich können Sie sich ihn sogar als Bundespräsidenten vorstellen.
Niemand hätte Verständnis für solche Spekulationen. Ich schätze Markus wirklich sehr. Punkt.
Interview: Georg Anastasiadis und Mike Schier