Kiew – Seinen Optimismus hat Wolodymyr Selenskyj nicht verloren. Selbst in diesen trüben Zeiten gibt es lichte Momente, zum Beispiel am Dienstag. Der ukrainische Präsident hat zur letzten Pressekonferenz des Jahres geladen, in seinem Rücken hängt die Fahne der Europäischen Union. Bald, kündigt Selenskyj an, „gibt es auf der Flagge einen Stern mehr“.
2024 dürfte für ihn das Schicksalsjahr werden. Zwar kann der Präsident stolz auf den Beginn der Verhandlungen über einen EU-Beitritt verweisen. Aber der vor einem Jahr versprochene Sieg über die russischen Besatzer ist nicht in Sicht. Die Gegenoffensive gilt als gescheitert. Von einem Stellungskrieg, einem Patt, einer Sackgasse ist im zweiten Kriegswinter die Rede. Und auch die Solidarität im Westen für das um sein Überleben kämpfende Land bröckelt.
Doch Selenskyj gibt sich kämpferisch. „Die Ukraine wird ihre Stärke und ihre Freiheit nicht verlieren“, betonte er erst Ende November wieder. Der Präsident warnt vor Kriegsmüdigkeit oder einem Einfrieren des Konflikts. Russland werde dadurch nur stärker. Dabei ist er fest entschlossen, Moskau zu einer strategischen Niederlage zu zwingen, das Land so zu schwächen, dass es niemals wieder eine solche Aggression lostreten könne. „Russlands Niederlage bedeutet Sicherheit für Europa“, sagt er.
Kiew ringt um weitere Hilfe
Für einen Sieg sind Selenskyj und die Ukraine allerdings weiter auf internationale Hilfe angewiesen. Und die schwindet – auch wegen des Gazakrieges, der viel Aufmerksamkeit der USA und anderer Verbündeter von der Ukraine abzieht. Auch die US-Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr legt sich bereits jetzt wie ein Schatten über die Unterstützung im Krieg. Anhänger des ins Amt strebenden Ex-Präsidenten Donald Trump unter den Republikanern blockieren die neuen, dringend benötigten finanziellen und militärischen Hilfspakete für das Land. Die EU soll einspringen, kann aber die USA weder bei der Munitionslieferung noch beim Geld ersetzen.
Dem Präsidenten bereitet das Sorgen. Hinzu kommen Probleme im eigenen Land, etwa beim Kampf gegen die Korruption, bei der Gewährleistung der Energiesicherheit im Winter und bei der Mobilisierung von Soldaten für den Krieg (siehe unten).
Noch vor einem Jahr kürte das US-Magazin „Time“ Selenskyj zur Person des Jahres 2022. Inzwischen bescheinigen ihm frühere Weggefährten Selbstherrlichkeit, Beratungsresistenz und einen zunehmend autoritären Führungsstil. In der Ukraine entstehe unter Selenskyj keineswegs eine „offene liberale Gesellschaft nach amerikanischem Vorbild“, sagte unlängst der Ex-Berater im Präsidentenbüro, Olexij Arestowytsch. Vielmehr ähnele sie einem mit US-Waffen vollgepumpten „ultranationalistischen Staat“.
Politische Machtspiele in der Ukraine
Über Kritik an Selenskyj ist in Kiews Medien nur wenig zu vernehmen, sie demonstrieren Geschlossenheit und fügen sich der Kriegszensur. Dabei sind die Klagen über den Staatschef längst im Alltag zu hören. Viele Ukrainer kritisieren bis heute, Selenskyj habe die Gefahr eines Krieges vor Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar 2022 heruntergespielt und auch schon vorher nichts für ein starkes Militär getan. Er habe die Menschen trotz US-Warnungen vor Moskaus Invasion ins offene Messer laufen lassen. Andere sind enttäuscht, weil Selenskyj bei seinem Amtsantritt 2019 Frieden versprochen hatte.
Vor dem zweiten Jahrestag des Kriegs besteht Selenskyj weiter auf die Umsetzung seiner „Friedensformel“. Ihr Kern ist die Forderung nach einem kompletten russischen Truppenabzug. Moskau lehnt dies als „unrealistisch“ ab, weil ein Rückzug als Kapitulation Wladimir Putins angesehen würde. Auch deshalb stellen sich Kiew und Moskau auf eine Fortsetzung der Kampfhandlungen ein.
Während Putin inzwischen seine Kriegswirtschaft auf Hochtouren laufen lässt, auf hunderttausende Freiwillige setzt, gilt die Ukraine ohne ausländische Hilfe schon länger nicht mehr als überlebensfähig. Für seinen Kampf setzt Selenskyj, der als glänzender Redner gilt und die Verbündeten mit seiner Emotionalität oft mitreißt, auch auf die Kraft des Wortes. „Wenn es keinen Sieg gibt, dann wird es kein Land geben“, sagte er im November.
Kritik an seiner Kriegsführung lässt der frühere Komiker nicht gelten. Das zeigte er zuletzt, als er den Oberkommandierenden der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, zurechtwies. Schon lange werden dem politische Ambitionen nachgesagt. In Kiew heißt es, der Kampf um die Macht sei in vollem Gange. Auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, der Selenskyj unlängst Fehler und Lügen vorwarf, könnte ihm bei einer Wahl gefährlich werden.
Doch die eigentlich für Anfang März geplante Präsidentenwahl fällt wegen des Kriegsrechts aus. Anfang November betonte Selenskyj, „dass Wahlen jetzt nicht angebracht sind“. Statt politischer Spalterei sollten die Ressourcen auf „unseren Sieg“ gerichtet werden. Der Glaube an den Sieg und die Rückkehr zu den Grenzen von 1991 scheint unter den Ukrainern mit fast 70 Prozent ungebrochen, wie Umfragen zeigen. Einen freiwilligen Verzicht auf Gebiete lehnen sie ab.
Nach den Erfolgen von Kiews Truppen im vorigen Jahr ist aber die Euphorie bei einigen verflogen. Rund ein Drittel der Bevölkerung meint, dass sich die Dinge in der Ukraine in eine falsche Richtung entwickeln. Selenskyj ließ Fernsehsender schließen; er entzog unliebsamen Landsleuten die Staatsbürgerschaft. Das Kriegsrecht gibt ihm zudem Instrumente in die Hand, die sich nicht nur gegen den russlandfreundlichen Teil der Opposition richten. Das Demonstrationsrecht ist eingeschränkt. Parlamentsdebatten laufen unter Verweis auf die Sicherheit hinter verschlossenen Türen.
Die Zustimmung für den Präsidenten sinkt
„Von einer Ausgewogenheit der Gedanken und Meinungsfreiheit kann keine Rede sein“, beklagte die Parlamentsabgeordnete Iryna Heraschtschenko. Die Vertreter der zweitgrößten Parlamentsfraktion der Partei Europäische Solidarität des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko seien mit vier Prozent im Fernsehen unterrepräsentiert und würden meist nur im negativen Licht dargestellt. Auch westliche Unterstützer mahnen Kiew im Hintergrund, wieder mehr Medienfreiheit zuzulassen.
Laut Meinungsforschern färbt all das auf die Zustimmungswerte für Selenskyj ab. Die Unterstützung für seine Politik lag laut Umfragen im September bei 42 Prozent – nach 74 Prozent im April 2022, als die Ukraine den ersten Rückzug russischer Truppen bei Kiew erlebte.
Kompromisse aber schließt der Staatschef weiter aus und beteuert bei jeder Gelegenheit: „Niemand glaubt so sehr an unseren Sieg wie ich.“ Er verspricht für 2024 neue Pläne, die Moskau überraschen würden. Und er hofft auf neue Milliarden der EU und der USA. Dazu sollen die im Frühjahr erwarteten Kampfjets vom US-Typ F16 vor allem die russische Luftüberlegenheit brechen helfen.