Kiew – Dass sein Land dringend mehr Soldaten benötigt, weiß auch Wolodymyr Selenskyj. Dennoch sagt der ukrainische Präsident: „Die Frage der Mobilmachung ist eine sehr sensible.“ Seit Monaten schon fordern die Kommandeure seiner Streitkräfte mehr Personal für den Fronteinsatz. Von einem Bedarf von 450 000 bis 500 000 zusätzlichen Soldaten ist die Rede. Aber neben den Kosten, die laut Selenskyj bei über zwölf Milliarden Euro liegen und erst noch aufgebracht werden müssen, gibt es auch ein Motivationsproblem. Die Bereitschaft, dem Land an der Waffe zu dienen, hat spürbar nachgelassen.
Da kommt es wenig überraschend, dass Verteidigungsminister Rustem Umerow nun eine neue Option erwähnt. Im kommenden Jahr will Kiew auch im Ausland – nicht zuletzt in Deutschland – lebende wehrfähige Ukrainer zum Dienst in den Streitkräften verpflichten. Männer zwischen 25 und 60 Jahren sollten eine Aufforderung erhalten, sich in den Rekrutierungszentren der Streitkräfte zu melden, sagte er der „Bild“. „Wir möchten Gerechtigkeit für alle, denn es geht ja um unser eigenes Land.“
Noch formuliert Umerow, der sein Amt erst im September antrat, das Anliegen zurückhaltend: „Wir schicken ihnen eine Einladung, und es ist dann ihr Recht, zu uns zu kommen und zu dienen.“ Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass hinter den moderaten Worten eine entschiedene Haltung steht. Für diejenigen, die der Aufforderung nicht Folge leisten, werde es Strafen geben. „Wir besprechen noch, was passieren soll, wenn sie nicht freiwillig kommen.“ Es sei „ja keine Strafe, für das eigene Land einzutreten und dem Land zu dienen. Es ist eine Ehre.“
Betroffen wäre eine sechsstellige Zahl von Ukrainern. Laut „Bild“ reisten seit Kriegsbeginn mehr als 220 000 männliche Ukrainer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren nach Deutschland. Rund 190 000 von ihnen halten sich demnach aktuell hier auf.
Bekannt ist, dass seit Februar 2022 tausende Ukrainer versucht haben, sich dem Kriegsdienst durch Flucht ins Ausland zu entziehen. Die Kontrollen an den Grenzen sind streng, Beamte durchsuchen Autos und reißen Verkleidungen in Zügen auf. Immer wieder werden auch an der grünen Grenze Männer aufgegriffen. Zudem gibt es viele Fälle, in denen sich Wehrpflichtige in Musterungsstellen mit Schmiergeldern vom Dienst freikaufen.
Dass ein Teil der Ukrainer den Dienst an der Waffe scheut, bedeutet für die aktiven Soldaten eine umso höhere Belastung. In der Armee und bei den daheim wartenden Familien wird diskutiert, welche Soldaten wann das Recht auf Ablösung und Heimaturlaub bekommen sollten. Wenn es um eine Mobilisierung gehe, müsse auch der Prozess der Demobilisierung genau geklärt werden, sagte Selenskyj bei seiner Jahrespressekonferenz.
Wladimir Putin setzt seit Langem darauf, dass dem Nachbarn irgendwann die Kämpfer ausgehen. Der russische Präsident hat nicht nur die Zahl der Soldaten erhöht, sondern lockt auch tausende Freiwillige vor allem mit vergleichsweise hohem Sold an die Front.
Sichtbar wird die verzweifelte Suche der Ukraine nach neuen Soldaten auf Märkten, in Einkaufszentren, Restaurants, Fitnessstudios oder in Kurbädern. Oft rücken bewaffnete Militärs an und versuchen, Männer zur Musterung mitzunehmen. Zwar sagte Selenskyj mal: „Wir können nicht wie Russland jemanden mit Knüppeln in den Krieg jagen.“ Doch schon da kursierten Videos, auf denen zu sehen war, wie Männer mit Gewalt in die Kreiswehrersatzämter gebracht wurden. M. BEYER/A. STEIN