Warum das Christkind die Geschenke bringt

von Redaktion

VON PETER T. SCHMIDT

München – „Das Christkind gehört zu einer Schar von Gestalten, die von Erwachsenen für Kinder erfunden wurden“, sagt Brauchtumsforscher Helmut Groschwitz. Doch anders als Osterhase oder Zahnfee lässt das Christkind auch die Herzen Erwachsener höherschlagen. Als Gabenbringer hat es hierzulande die gesammelte Konkurrenz vom Nikolaus über den Weihnachtsmann bis zu Väterchen Frost hinter sich gelassen. Für Millionen Menschen verkörpert es die Sehnsüchte, Hoffnungen und Emotionen, die sich um das Weihnachtsfest ranken.

Das mag auch daran liegen, dass das Christkind wie viele andere Brauchtumsgestalten uralte Wurzeln hat. Um die zu erklären, muss Groschwitz, der am Institut für Volkskunde der Bayerischen Akademie der Wissenschaften alten Bräuchen nachspürt, etwas ausholen: In der katholischen Kirche sei St. Nikolaus eine der zentralen Gabenbringerfiguren gewesen, erzählt der Volkskundler. Um das mildtätige Wirken des Bischofs aus dem kleinasiatischen Myra ranken sich mehrere Legenden. Schon im Übergang vom Mittelalter in die frühe Neuzeit war der Heilige ein Vorbild für wohlhabende Persönlichkeiten, die anlässlich kirchlicher Feiertage Almosen verteilten – auch an Weihnachten, obwohl das, so Groschwitz, ursprünglich ein eher untergeordneter Feiertag im kirchlichen Jahreskalender war: „Wichtig war der 6. Januar, die Erscheinung des Herrn.“

Der „Paradiesbaum“, ein früher Vorläufer des Christbaums, mag ebenfalls zur weihnachtlichen Gabenkultur beigetragen haben. Anlässlich des Adam-und-Eva-Tags am 24. Dezember wurde ein Strauch oder ein kleines Bäumchen geschmückt, „und zu Christi Geburt durften die Kinder das, was dranhängt, also Äpfel, Nüsse und so weiter, von diesem Baum pflücken“, sagt Groschwitz. Der theologische Gedanke dahinter: „Mit Adam und Eva kam die Sünde in die Welt, mit Christi Geburt die Erlösung.“

Nach Martin Luthers Reformation ergab sich allerdings ein Problem: „Ein wichtiger Aspekt der Reformation war die Ablehnung der Heiligenverehrung“, sagt Groschwitz. Die Protestanten brauchten einen neuen Gabenbringer als Ersatz für den in Ungnade gefallenen St. Nikolaus – und fanden ihn im Christuskind. Ob dies direkt auf Luther zurückgehe, sei nicht belegt, sagt Groschwitz. Doch zweifellos passte es gut zu einer theologischen Frage, die das weihnachtliche Schenken ganz losgelöst von materiellen Werten betrachtete: Was schenkt uns Christus?

Beim Volk kam der neue Gabenbringer gut an – im Lauf der Zeit auch bei Katholiken, zumal die auf ihren Nikolaus nicht verzichten mussten. Viel mehr als die Äpfel, Nüss’ und Mandelkern, für die der fromme Mann aus Myra besungen wird, hatte anfangs freilich auch das Christkind nicht zu verteilen. Dazu war die Mehrheit der Bevölkerung schlicht zu arm. „Dass zu manchen Terminen sehr viel geschenkt wird, fängt relativ spät an“, berichtet Groschwitz. „Das begann in adeligen, später in großbürgerlichen Kreisen und diffundierte dann langsam nach unten.“

Gleichzeitig wandelte sich die Vorstellung vom Christkind: Aus dem Jesuskind in der Krippe, das fraglos ein Bub ist, wurde ein Wesen, das heute stets von Mädchen und jungen Frauen dargestellt wird, etwa bei der Eröffnung des Nürnberger Christkindlesmarktes (siehe Interview). „Beim heutigen Christkind haben wir es sozusagen mit einer Transperson zu tun“, sagt Groschwitz. „Also eine Brauchgestalt, die einen Geschlechtswandel durchgemacht hat.“

So weit will ihm sein Kollege Michael Ritter vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege nicht folgen. „Ich würde eher sagen, das Christkind ist geschlechtsneutral und steht damit für die gesamte Menschheit“, sagt er. Doch einig sind sich die beiden in der Theorie, dass die androgyne Darstellung mancher Engel zum heutigen Bild des Christkinds beigetragen haben dürfte. „Es könnte auch sein, dass sich hier so ein bisschen das Motiv des Schutzengels reingeschrieben hat“, glaubt Groschwitz.

Ritter weiß von einem weiteren Wandel zu berichten: Obwohl das Christkind aus der Reformation hervorgegangen ist, umfasst sein Reich heute im deutschsprachigen Raum insbesondere die überwiegend katholischen Gebiete. „Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland“, zählt Ritter auf. Dazu Österreich und große Teile der ehemaligen Habsburger Monarchie von Tschechien und Ungarn über Kroatien, Südtirol und die Schweiz. In Nord- und Ostdeutschland dagegen bringt meist der Weihnachtsmann die Geschenke.

Die Säkularisierung im 19. Jahrhundert ließ den religiösen Gehalt des Weihnachtsfestes schwinden. Doch beim Schenken waren die Menschen auf den Geschmack gekommen. Ein erstarkendes, zunehmend selbstbewusstes Bürgertum suchte es dem Adel gleichzutun und leistete sich so manchen Luxus. „Die Geschenkkultur bekam einen enormen Schub“, beschreibt Groschwitz diese Zeit. „Einerseits steckt dahinter das Entstehen der bürgerlichen Kleinfamilie, zum anderen bildet sich eine Spielzeugindustrie heraus – nicht wie heute in China, sondern in den damals wirtschaftlich schwachen Regionen wie dem Erzgebirge, dem Thüringer Wald und dem Schwarzwald.“ In einer Hausindustrie mit viel Kinderarbeit seien hier die Geschenke gefertigt worden, die in den Städten Kinderaugen leuchten ließen. Nürnberg stieg zu einem der wichtigsten Zentren des Spielzeughandels auf.

Längst verteilen Christkind und Weihnachtsmann die Geschenke auch auf dem Land – und sind zu einem großen Wirtschaftsfaktor geworden. „Für viele Unternehmen entscheidet das Christkind, ob es ein gutes oder ein schlechtes Jahr wird“, sagt Bernd Ohlmann, Sprecher des Handelsverbands Bayern. Mehr als 14 Milliarden Euro Umsatz erwartet Bayerns Einzelhandel im Weihnachtsgeschäft, etwa ein Fünftel des Jahresergebnisses. Allein die Münchner wollen einer aktuellen Umfrage zufolge im Schnitt 547 Euro für Weihnachtsgeschenke ausgeben. Die liegen dann meist liebevoll verpackt unter dem Christbaum.

Dessen Siegeszug verlief parallel zum Geschenkebrauch, wenn auch mit gänzlich unchristlichen Ursachen. „Die frühesten Belege stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, und zwar im Elsass im städtischen Raum“, hat Groschwitz recherchiert. Im 18. Jahrhundert schmückten dann Adelige in Preußen ihre Wohnungen mit Weihnachtsbäumen. Erst die Eisenbahn habe es im 19. Jahrhundert ermöglicht, Christbäume in großer Zahl in die Städte zu liefern, berichtet der Volkskundler.

Ausgerechnet der Erste Weltkrieg verhalf dem Brauch dann zu weiterer Verbreitung: „Man dachte ja 1914: Wir ziehen jetzt mal los und Weihnachten sind wir wieder zurück. Stattdessen mussten die Soldaten Weihnachten im Schützengraben verbringen“, so Groschwitz. „Da wurden offenbar kleine Weihnachtsbäumchen verteilt, um ein heimeliges Gefühl zu verbreiten.“

Gut vorstellbar, dass die Heimkehrer diesen kleinen Hoffnungsträger fortan nicht mehr missen wollten. Der weltweite Tourismus trug den Christbaum, losgelöst von seiner religiösen Bedeutung, rund um den Globus. Wer derzeit auf Reisen geht, wird ihm in Indien ebenso begegnen wie in Alaska.

Doch die Magie des Christkinds und des Heiligen Abends trotzt aller Kommerzialisierung: Wenn am Sonntag Millionen Augen mit den Kerzen am Baum um die Wette strahlen, liegt das nicht nur an den Geschenken.

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