„Wir werden künftig mit unseren Herzen arbeiten“

von Redaktion

INTERVIEW Jochen Wallisch von Siemens über die Bedeutung von Künstlicher Intelligenz in der Arbeitswelt

München – Jochen Wallisch ist geschäftsführender Vizepräsident für Personal und Organisation bei der Siemens AG. Zuvor war er in leitender Funktion für die Lufthansa AG tätig, danach baute er die Eurowings AG auf. Rechtsanwalt Wallisch ist als Verantwortlicher für das Thema Personal tagtäglich mit dem Zukunftsthema Künstliche Intelligenz, kurz KI, befasst. Er geht davon aus, dass sich die Arbeitswelt durch Künstliche Intelligenz verändern wird – dass aber nicht zwangsläufig Arbeitsplätze verloren gehen. Ein Gespräch über eine neue Intelligenz, die viele Arbeitnehmer derzeit stark verunsichert.

Herr Wallisch: Wo setzt Siemens bereits auf KI?

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz zieht sich bei Siemens nahezu durch alle Geschäftsfelder, Bereiche und Funktionen – von der automatisierten Produktion in den Werken bis hin zu Arbeiten im Büro, die von einer hausinternen ChatGPT-Lösung unterstützt werden. Ein interessantes Produkt ist der „Siemens Industrial Copilot“, den wir gemeinsam mit Microsoft entwickelt haben: Der KI-gestützte Assistent ermöglicht es, komplexe Programmiercodes mithilfe menschlicher Sprache zu generieren – das vereinfacht die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine in der Fertigung. Ein Prozess, der früher mehrere Wochen gedauert hat, wird nun auf wenige Minuten reduziert – eine enorme Entlastung und Zeitersparnis fürs Ingenieur- und Wartungspersonal. Der Copilot ist derzeit für den Fertigungsbereich ausgelegt; unsere Vision ist aber, dass solche Copiloten künftig Mitarbeitende in den verschiedensten Branchen, wie Infrastruktur, Transport oder Gesundheitswesen, unterstützen.

Wird KI unser Arbeiten grundlegend verändern?

Der Veränderungsgrad hängt von der Branche und dem Arbeitsbereich ab: In einigen Berufsbildern wird KI sich schneller und spürbarer auswirken, während in anderen ein schrittweiser Prozess stattfindet. Insbesondere in technischen Berufen, in denen uns in Deutschland viele Fachkräfte fehlen, eröffnet KI große Chancen. Sie kann repetitive, also sich ständig wiederholende Aufgaben übernehmen, sodass unsere Mitarbeitenden sich verstärkt auf kreatives Denken und die Lösung komplexerer Probleme konzentrieren können – Bereiche, in denen KI an ihre Grenzen stößt.

Eine Angst ist, dass viele Arbeitsstellen wegfallen. Welche Jobs werden nicht mehr gebraucht?

Wir sehen, dass beispielsweise Tätigkeiten, die Informationen sammeln und aufbereiten, vermehrt von KI übernommen werden. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass diese Jobs ersetzt werden, sondern vielmehr, dass eine neue Arbeitsteilung entsteht. Mitarbeitende können sich stärker auf Bereiche konzentrieren, die KI nicht übernehmen kann. Es werden derzeit viele Diskussionen geführt, wie sie es schon zu Digitalisierung und Automatisierung gab. Dabei hat jede industrielle Revolution am Ende sogar mehr Arbeit hervorgebracht. Entscheidend ist, dass wir diese Entwicklung proaktiv gestalten. Sicherlich werden einige Aufgaben wegfallen, es entstehen aber gleichzeitig auch viele neue. Unternehmen wie Siemens sollten den Beschäftigten dabei Orientierung geben und sie unterstützen. Wie sich Jobs und Aufgaben in den nächsten drei bis fünf Jahren verändern, das analysieren wir. Die Ergebnisse zeigen, welche Fähigkeiten künftig gebraucht werden und wie wir unsere Mitarbeitenden dafür qualifizieren.

Ein Beispiel?

Im Amberger Werk werden Systemsteuerungen hergestellt – voll digitalisiert und automatisiert, gestützt von einer KI, die ständig dazulernt. Die Zahl der Mitarbeitenden ist in den vergangenen 20 Jahren konstant geblieben, nur die Arbeitsinhalte haben sich verändert. Die KI übernimmt die meisten Arbeitsschritte. Sobald Probleme auftreten, schreitet ein Mitarbeiter ein. Die Produktivität konnte so deutlich gesteigert werden: mit einem Faktor von 20 bis 25 Mal mehr Umsatz. Ich gehe davon aus, dass in der Zukunft viele Jobs entstehen werden, über die wir heute nur spekulieren können. Die Technologie entwickelt sich rasant, vieles ist langfristig nicht absehbar. Wichtig ist, dass man sich dem „Lebenslangen Lernen“ verschreibt. Damit bleibt man auch für den Arbeitsmarkt relevant.

Welche Qualifikationen werden beim Einsatz von KI besonders benötigt?

Grundsätzlich braucht nahezu jeder ein Grundverständnis, um richtig mit KI umgehen zu können. Daher sind kritisches, analytisches Denken und lösungsorientiertes Handeln für alle gefragt. Gleichzeitig sehen wir für bestimmte Bereiche einen steigenden Bedarf an fachspezifischen Kompetenzen. Besonders relevant sind Profile, die sich mit der Verarbeitung von Daten und der Prozessarchitektur von KI auseinandersetzen. Um zwei Beispiele zu nennen: In der Informationstechnologie braucht es besonders IT-Architekten und Software-Entwickler, während in der Forschung und Entwicklung System- oder Experten-Ingenieure gefragt sind.

Welche Ausbildung wird für junge Menschen besonders spannend sein?

Gerade Berufe mit dem Schwerpunkt Datenverarbeitung gewinnen an Bedeutung. Bei Siemens bieten wir etwa eine Ausbildung zum Kaufmann für Digitalisierungsmanagement an, die sich auf Datenanalyse konzentriert. Im Fertigungsbereich kann ich die Ausbildung zum Anlagen- und Maschinenführer nahelegen. Hierbei wird Wissen zur Programmierung und Bedienung von automatisierten Maschinen vermittelt. Durch KI entstehen neue Rollen, die noch nicht existieren. Daher mein Appell an Berufseinsteigende: Bleibt neugierig und lernt kontinuierlich dazu! In technischen Berufen beträgt die Aktualität des Wissens oft nicht mehr als fünf Jahre, weshalb wir uns ständig weiterentwickeln müssen.

Wann wird KI so weit sein, dass sie der menschlichen Intelligenz überlegen ist?

Ich zitiere mal frei einen amerikanischen Journalisten: Im 19. Jahrhundert haben wir mit unseren Händen gearbeitet, im 20. Jahrhundert mit den Köpfen. Und im 21. Jahrhundert werden wir mit unseren Herzen arbeiten. Und das ist keineswegs sozialromantisch gemeint, sondern bringt auf den Punkt, dass der Mensch durch emotionales Handeln und kritisches Denken fähig ist, Entscheidungen und Abwägungen zu treffen und jedwede Form von zwischenmenschlichem, ergebnisförderndem Verhalten gestaltet. Mit KI lassen sich Handlungs- und Entscheidungsoptionen zwar verbessern, die Entscheidung erfolgt aber weiter durch den Menschen. Das wird KI noch lange nicht ersetzen. Es geht um eine clevere Verknüpfung von menschlicher mit künstlicher Intelligenz, und zwar zum Vorteil aller.

Interview: Frank Meik

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