Wird es das Jahr, in dem die Regierung stürzt? Und Friedrich Merz Kanzler wird? Der CDU-Vorsitzende reagiert eher zurückhaltend auf diese Frage. Nein, sagt Merz, mit schnellen Neuwahlen rechne er nicht. Zum Jahresbeginn sind wir mit dem Partei- und Fraktionschef per Videokonferenz verabredet. Der 68-Jährige aus dem Sauerland hat die letzten Tage in seinem Ferienhaus am Tegernsee verbracht, wirkt konzentriert, nachdenklich. Einmal nur wird das Interview unterbrochen: Es klingelt an der Haustür, die Sternsinger sind es, sie tragen ihren Segen von Haus zu Haus. Er nimmt sich einige Minuten Zeit für sie. Mit Segen geht das Gespräch dann nahtlos weiter.
Wir starten in 2024. Was ist Ihr guter Vorsatz fürs neue Jahr – außer Kanzler zu werden?
(lacht) Das steht in diesem Jahr vermutlich nicht an. Nach meiner Einschätzung werden wir keine Neuwahlen bekommen, auch wenn sie dringend nötig wären. Mein persönlicher Vorsatz: Ich will weiter politisch arbeiten, dabei gesund durchs Jahr kommen und ein bisschen mehr Sport machen.
SPD-Chefin Saskia Esken wünscht sich von Ihnen, dass Sie künftig nicht mehr so „brandgefährlich“ daherreden sollten.
Muss ich mich dazu äußern? Und Herr Klingbeil verwendet denselben Begriff in Richtung AfD, sicher kein Zufall. Wenn Herr Klingbeil und Frau Esken CDU und AfD immer wieder in einen Topf werfen, dann fragt sich doch jeder vernünftige Mensch: Was geht in den Köpfen dieser Leute vor?
Nun ja, Sie meint wohl Sätze wie die von den „kleinen Paschas“ in der Integrationsdebatte.
Mir haben viele gesagt, dass das noch eine beschönigende Beschreibung war. Wie groß die realen Integrationsprobleme in Deutschland sind, das konnte man ja über den Jahreswechsel wieder anschauen.
Sie haben Silvester nicht in Berlin verbracht. Da sind jetzt alle erleichtert, dass es „nur“ 390 Festnahmen gegeben hat. Sie auch?
In Berlin hat sich gezeigt, dass es eben doch einen Unterschied macht, wer regiert: Der rot-rot-grüne Senat hatte letztes Jahr komplett die Kontrolle verloren, unter Führung der CDU wurde jetzt spürbar härter durchgegriffen. Wenn es rund 400 Festnahmen und wieder Randale gibt, würde ich von einem „Erfolg“ nicht sprechen. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass so etwas passiert. Aber die Richtung in Berlin stimmt wenigstens.
Das neue Jahr beginnt mit einem Umfrageknaller. 37 Prozent für die AfD in Sachsen. Droht im Osten heuer der Erdrutsch?
Das sind Momentaufnahmen, die vor allem eine wachsende Unzufriedenheit mit der Bundesregierung zeigen, und das nicht nur im Osten. Wenn die drei Ampelparteien zusammen in Umfragen in Sachsen nur noch 11 Prozent erreichen und die SPD für sich nur noch drei, dann ist das eine deutliche Aufforderung, die Probleme zu lösen, die hinreichend bekannt sind.
Ihr Problem ist: Ohne Linkspartei dürfte weder in Sachsen noch Thüringen ein CDU-Ministerpräsident gewählt werden können. Steht die Brandmauer nach rechts, reißt die CDU dafür die nach links ein? Oder zu Wagenknecht und ihren Putin-Fans?
Umfragen sind keine Wahlergebnisse. Wir schielen nicht nach rechts und links, sondern fokussieren uns auf „CDU pur“. Ich glaube unverändert: Die CDU hat in Sachsen, Thüringen und Brandenburg die Chance, stärkste Kraft zu werden. Wahlkämpfe sind ja auch dazu da, die Stimmung zu verändern und die Menschen zu überzeugen.
Wir können Ihre Gelassenheit nicht teilen. Die Umfragen sind fatal, nichts sieht danach aus, dass die CDU auch nur in einem Land auf Platz 1 landet!
Sie verwechseln Gelassenheit mit Konzentration auf die großen Themen. Wir haben ein Integrationsproblem, ein massives Zuwanderungsproblem und erhebliche wirtschaftliche Sorgen – und zugleich eine Bundesregierung, die mit den gestellten Aufgaben offenbar völlig überfordert ist. Darüber denke ich nach, nicht über Koalitionen.
Esken hat einen Vorschlag. Sie ruft erneut nach einem AfD-Verbot. Würden Sie ihr dabei gerne helfen?
Mich macht das einigermaßen fassungslos. Solche Scheindebatten sind doch Wasser auf die Mühlen der AfD. Hat Frau Esken vergessen, wie das NPD-Verbotsverfahren ausgegangen ist? Und glaubt die SPD-Vorsitzende allen Ernstes, dass man eine Partei, die in Umfragen an die 30 Prozent heranreicht, einfach verbieten kann? Das ist schon eine beängstigende Verdrängung der Wirklichkeit. Das einzig wirksame Konzept ist: Die Politik muss vernünftige Lösungen für die Probleme hinbekommen, dann wird auch die AfD wieder kleiner. Alles andere wäre doch eine Bankrotterklärung. Will Frau Esken dann auch noch die Union verbieten, wenn wir auf die Probleme hinweisen, die der SPD nicht so angenehm sind?
Heute findet die Trauerfeier für Ihren Freund Wolfgang Schäuble statt. Was haben Sie ganz persönlich von ihm gelernt?
Die unbedingte Pflicht zur Zuversicht. Dass man in der Politik nicht fatalistisch werden darf, nicht zynisch.
Das fällt aktuell nicht leicht. 2024 beginnt mit riesigen außenpolitischen Herausforderungen. Im Osten wankt die Ukraine unter Putins immer heftigeren Bombardements, im Westen droht ein neuer Präsident Trump. Ist Deutschland ausreichend auf die neue Weltlage vorbereitet?
Wir haben über die Feiertage und Neujahr bisher nicht gekannte Angriffe der russischen Armee gegen zivile Ziele in der Ukraine gesehen – ungeheure Kriegsverbrechen. Innenstädte, Krankenhäuser, Schulen und die Energieversorgung werden systematisch bombardiert. Täglich sterben Familien in der Ukraine durch russische Waffen. Das ist unerträglich. Aber es regt sich kaum ein „Weltgewissen“ dagegen. Mich bestätigt das in der Auffassung: Deutschland und Europa müssen sich selbst sehr viel besser in die Lage versetzen, solchen Angriffen auch auf unsere Freiheit zu widerstehen. Und der Ukraine haben wir bisher einfach zu spät und zu wenig geholfen.
Was konkret muss man jetzt für die Ukraine tun?
Deutschland sollte endlich Marschflugkörper liefern, die auch die Versorgungswege zur Krim erreichen können. Von der Krim aus wird ein Großteil des Krieges gegen die Ukraine geführt, die Russen schicken von dort aus Truppen und Waffen. Und in ganz Europa braucht es eine neue gemeinsame Anstrengung, auch 2024 der Ukraine politisch, finanziell und militärisch weiter zu helfen.
Die Kriegsgefahr wird wohl länger bleiben. Braucht Deutschland wieder die Wehrpflicht?
Die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 war jedenfalls ein Fehler. Aber man kann sie über Nacht nicht einfach wieder einführen. In der CDU haben wir einen Parteitagsbeschluss für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr gefasst. Und ich habe große Sympathien für den Vorschlag des Bundesverteidigungsministers, so wie in Schweden alle jungen Leute eines Jahrgangs zunächst zu mustern, Männer wie Frauen – und einigen dann ein Angebot für die Streitkräfte zu machen. Ja: Wir müssen wieder über gesellschaftliche Pflichten in unserem Land sprechen.
Und was kann Berlin tun, damit, wie von der ukrainischen Regierung gewünscht, weniger Männer nach Deutschland desertieren? Und damit junge Männer zurückkehren?
Wir sollten unsere Hilfen für ukrainische Flüchtlinge neu ordnen. Da geht es auch um die Leistungshöhe. Diejenigen, die hier sind, müssen auch viel schneller in den Arbeitsmarkt vermittelt werden. Das haben andere Länder offenkundig besser gemacht als wir. Wir müssen den Flüchtlingen sagen: Ihr müsst selbst mithelfen, damit wir euch hier weiter in diesem Umfang unterstützen können. Arbeiten zu gehen, das ist ein wichtiger Bestandteil der Teilhabe und der eigenen Verantwortung.
Noch mal: Junge Männer zurücksenden?
Das ist ein Thema, und darüber muss die Bundesregierung mit der Ukraine in den nächsten Wochen sprechen.
Auch wirtschaftspolitisch läuft es schlecht, wir sind Wachstumsschlusslicht in Europa. Gilt wieder der Satz, mit dem Stoiber 2002 in die Bundestagswahl zog: Deutschland ist ein Sanierungsfall?
Das ist jedenfalls ein Befund, der sich für 2024 abzeichnet. Wir unterschätzen alle zum Beispiel die hohen Kapitalabflüsse aus Deutschland. Unser Land verliert seit Jahren wirtschaftliche Substanz. Wenn wir gleichzeitig 2,7 Millionen Arbeitslose haben und 760 000 offene Stellen, dann stimmt auch auf unserem Arbeitsmarkt etwas nicht. Wir sollten uns in diesem Jahr gemeinsam zu einer Botschaft aufraffen: Unser Wohlstand und unsere soziale Absicherung sind auf Dauer nur mit mehr Arbeit und mit größerer Anstrengung aufrecht zu erhalten.
Auf der CSU-Klausur in Seeon überlassen Sie die Bühne Ihrem Kollegen Markus Söder, bleiben fern. Warum?
Ich war auf den letzten drei CSU-Klausuren, dieses Mal kann ich leider nicht, und das hat einen ganz einfachen privaten Grund: An diesem Wochenende wird mein Vater 100 Jahre alt. Die ganze Familie ist zu Besuch. Die Familie geht in diesem Jahr vor.
Eilig hat Söder es nicht, Sie zum Kanzlerkandidaten auszurufen. Er sagt, wer beim Elfmeter zu früh anläuft, der verschießt…
Das ist unsere gemeinsame Auffassung. Deswegen entscheiden wir im Spätsommer 2024.
Kurios, dass aus der CDU aber schon einige Ministerpräsidenten ihre Präferenzen kundtun …
Was ist daran kurios? Es ist doch völlig normal, dass eine so wichtige Personalentscheidung diskutiert wird und dass es in den Medien Fragen dazu gibt. Wir würden uns doch ernsthaft Sorgen machen müssen, wenn niemand danach fragen würde, wer denn von uns im nächsten Jahr der Bundeskanzler werden soll. Wir als Union stehen so gut da wie die drei Ampel-Parteien zusammen. Und da steigen natürlich die Erwartungen an uns.
Hätten Sie, wenn Sie Kanzler sind, Markus Söder gern als Superminister in Ihrem Kabinett?
Markus Söder macht seine Arbeit als Ministerpräsident in Bayern wirklich sehr gut. Das sehen die Wähler so, und ich teile diese Einschätzung.
Sie wären bei der nächsten Wahl 69. Verstehen Sie, dass manche Leute sagen: Der Merz ist dann doch etwas arg erwachsen, um noch viele Jahre Kanzler zu werden?
Danke für die freundliche Formulierung. Ich fühle mich fit und leistungsfähig.
Die „Generation Z“ hätte dennoch ein paar andere Lebenspläne, als mit 69 noch zu schuften. Keine Sehnsucht nach Work-Life-Balance, Herr Merz?
So denke ich nicht. Für uns alle im Land gilt, dass wir für unsere Freiheit und unseren Wohlstand etwas mehr arbeiten müssen, und da versuche ich, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Interview: Georg Anastasiadis, Mike Schier, Chr. Deutschländer