Eurasburg – Vor einem Jahr geriet die Welt von Max Kronawitter (61) aus den Fugen. Im Dezember 2022 bekam er die Diagnose, dass er an einem bösartigen Gehirntumor erkrankt ist. Von heute auf morgen konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben: Als Filmemacher hat er über 200 oft preisgekrönte Dokumentarfilme gedreht – über den Todesmarsch der Dachauer KZ-Häftlinge, über Holocaust-Überlebende, über Menschen in aller Welt, die ein schweres Schicksal getroffen hat. Kronawitter hat noch im Krankenhaus nach seiner Hirn-Operation begonnen, sich selber zu interviewen – so, wie er in all den Jahren seine Gesprächspartner befragt hatte. Seine Auseinandersetzung mit dem Glioblastom – so der medizinische Begriff des Tumors – hat er in einem Buch verarbeitet „Ikarus stürzt“, das gerade veröffentlicht worden ist. Wir sprachen mit dem Filmemacher, der mit seiner Frau und drei Kindern in Eurasburg (Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen) lebt, über seine Filme, den Tumor und sein neues Leben auf Zeit.
Vor einem Jahr ist Ihr Leben von einem Tag auf den anderen aus den Angeln gehoben worden. Die Diagnose: Ein Glioblastom, ein bösartiger Tumor im Gehirn. Sie haben ein Buch geschrieben über Ihre Krankheit. Das Buch ist Ihnen zum Therapeuten geworden, sagen Sie. Wie ging das?
Am Anfang war ich natürlich völlig aus der Bahn geworfen, habe überhaupt keine Vorstellung gehabt, wie das weitergehen soll und was ich noch tun kann. Nach der Diagnose bin ich mit meiner Frau Heike nach Hause gefahren, bin in mein Büro, hab meine Kamera aufgestellt und angefangen, mir so eine Art Interview zu geben. Ich wusste nicht, wofür – es war wie ein Reflex. So, wie ich 30 Jahre als Filmemacher gearbeitet hatte: Da passiert jetzt etwas ganz Außergewöhnliches und ich muss das festhalten. Es war wie eine Bestandsaufnahme über das, was da gerade abging.
Aus dem Reflex wurde eine fast tägliche Übung.
Ja, ich hab’s am nächsten Tag wieder gemacht. Und als ich dann operiert und wieder ein bisserl zu mir gekommen war, hab ich meiner Frau gesagt, sie soll mir ein kleines Aufnahmegerät mitbringen, das ich noch bedienen kann. Nach drei Tagen habe ich wieder angefangen aufzusprechen, was gerade alles passiert. Das war der Automatismus, den ich als Dokumentarfilmer so eingeübt hatte, der hat voll funktioniert. Ich bin heilfroh, dass ich das getan habe, denn ganz viel hat sich verflüchtigt, und ich hätte keinen Zugang mehr dazu gehabt. Später ist daraus die Idee entstanden, es zu einem Buch zu machen.
Was war das Therapeutische für Sie?
Zunächst ist es so: Du weißt, du hast hinten im Kopf so etwas wie eine Zeitbombe, die dich zugrunde richten möchte. Für mich war das Schreiben darüber, als würde ich den Tumor rausnehmen. Ich hab ihn vor mich hingelegt und konnte darüber schreiben. Ich konnte ihn zwischen zwei Buchdeckel einzwängen. Und ihm auch sagen: Gut, heute haben wir uns miteinander beschäftigt, am Wochenende will ich dich nicht sehen! Ich konnte das eingrenzen. Indem ich durch das Buch mit meiner Krankheit in einen Dialog getreten bin, hat sie ein Stück weit ihren Schrecken verloren.
Seine Gedanken und Erlebnisse festzuhalten, ist das Eine. Sie aber zu veröffentlichen, ist ein viel weitreichenderer Schritt. Was hat Sie dazu gedrängt?
Ich hatte 30 Jahre lang Filme gemacht über Menschen in existenziellen Situationen. Ich habe diesen Menschen so viel Wahrheit abverlangt. Sie haben mich so tief in ihr Leid, aber auch in ihre Bewältigungsstrategien hineinschauen lassen, dass ich gedacht habe: Es ist nur redlich, jetzt, wo es mich erwischt hat, auch offen damit umzugehen. Gleichzeitig hatte ich nach diesen Filmen, mit denen ich die Zuschauer konfrontiert habe, Hunderte von Briefen oder Mails bekommen, in denen sich Menschen bedankt haben für die Offenheit eines Films. Dass ihnen die Darstellung des Schicksals geholfen habe. Und das ist meine Hoffnung: Wenn ich das jetzt auch tue, helfe ich vielleicht auch Menschen. Die Erfahrungen meiner Dokumentationen wollte ich weitergeben. All meine Filmprotagonisten sind sozusagen lebendig geworden, weil ich mich an ganz viele Situationen erinnert habe. Das Buch erzählt von Menschen, die ich porträtiert habe – und die mir jetzt zum Lehrmeister geworden sind.
In Ihrem Buch schreiben Sie über die 13-jährige Wenke, die Sie bis zu ihrem Tod begleitet haben. Sie hatte auch einen Gehirntumor. Was ist für Sie die wertvollste Erinnerung an sie?
Das Ergreifendste war für mich, als sie mich am Ende in ihr Herz geschlossen hat. Dass sie mich gebeten hat, die Trauerrede für sie zu halten. Was ich von ihr gelernt habe? Sie hat mir zu Anfang erzählt, dass sie ihrem Tumor einen für sie blöden Namen gegeben hat – sie hat ihn Hugo genannt. Sie hat gemerkt: mit einem so blöden Namen hat er ihr nicht mehr so viel Angst gemacht. Im Grunde genommen habe ich mir das abgeschaut von der Wenke, ich hab’s genauso gemacht: Ich hab ihn zum Gegenstand meiner Berichterstattung gemacht, ich hab ihn heruntergeholt von meinem Hirn, hab mich mit ihm unterhalten. Damit wird diese Ohnmacht kleiner. Wenn man, egal wie gefährlich etwas ist, dem gegenübertreten kann, dann macht es das einfacher.
Dann hatten Sie viele Lehrmeister in den Filmen, die Sie gedreht haben. Sie waren ja in allen Teilen der Welt unterwegs und haben Menschen mit schweren Schicksalen besucht.
Es waren Begegnungen, die ganz präsent waren: Ob das der Ferdi war, ein Polio-Kind, das nur drei Finger bewegen konnte. Oder der Benediktiner Elija, der erblindet ist. Genau das, was mir auch passierte: Dass ich von jemandem, der in Bildern gelebt hat, davon plötzlich abgeschnitten war. Ich kann keine Kamera mehr bedienen. Von daher waren diese Menschen, weil sie ein mir so ähnliches Schicksal erlitten haben, mir auf einmal so nahe. Mein Buch ist der Versuch, anhand vieler außergewöhnlicher Menschen den Menschen zu erzählen, wie man mit einer solchen Situation umgehen kann.
Oft machen Menschen ihr Schicksal mit sich selber aus, weil sie meinen, sich selbst und ihre Liebsten schonen zu müssen. Sie legen schonungslos alles offen. Warum ist das für Sie der richtige Weg?
Wenn man 30 Jahre lang Schicksale abfragt, darf man selber nicht kneifen. Das Zweite ist die Hoffnung, dass das, was ich zu sagen habe, nicht nur Selbst-Therapie ist. Dafür dürfte man es nicht machen. Ich bin schon überzeugt, dass das Buch den Blick weitet und es leichter macht, ein solches Schicksal anzunehmen. Wenn es auch nur wenige sind, die ein solches Schicksal ereilt. Aber jeder hat, wenn er ehrlich ist, in seiner Umgebung solche Menschen – von daher gibt es ganz viele, denen vielleicht meine Erfahrungen etwas Positives für ihr Leben bedeuten könnte.
Sterben und Tod – darüber redet man ja eigentlich nicht. Ihr Buch zwingt den Leser, sich mit seiner eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Ist das Ihr Appell an die Menschen, das nicht zu verdrängen?
Ich hab vorhin mit einem Freund meiner Tochter gesprochen und der hat mir erzählt, er wäre erst bei einer einzigen Beerdigung gewesen. Heutige Abiturienten waren vielleicht noch bei keiner Beerdigung! Ich komme aus einer anderen Tradition. Damals in Niederbayern sind wir bei jedem Verstorbenen im Dorf dort hingelaufen und haben uns den angeschaut. Ich war in meinem Leben bei hundert, vielleicht zweihundert Beerdigungen. Ich glaube schon auch, dass es uns allen besser gehen würde, wenn wir ein normales Verhältnis zum Tod und zum Sterben entwickeln würden, statt dieser Verdrängung, die unfähig macht, mit einer solchen Situation umzugehen – und die Patienten möglichst schnell in eine Institution abzuschieben.
Sie sind ein religiöser Mensch, haben Theologie studiert. Hat die Krankheit Ihren Glauben verändert?
Nein, eigentlich überhaupt nicht. Die Vorstellung, ich müsste mit Gebetspraktiken oder Wallfahrten diesen Gott dazu bewegen, davon abzulassen, mich weiterhin mit Krebs zu ärgern? Nein, das kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Für mich ist diese Erkrankung ein Defekt der Natur, der vorkommen kann und nicht von einem Gott geschickt wurde. Darum fange ich auch jetzt nicht an, mit Gott zu feilschen. Mein Gottesbild hat sich dadurch nicht verändert.
Wie geht es Ihnen jetzt, nachdem Sie die Operation, die Chemo und Bestrahlungen überstanden haben?
Die Hoffnung war, dass sich mein Sehen wieder fundamental verbessert. Es hat lange gedauert, bis ich akzeptieren konnte, dass ich wahrscheinlich nie wieder eine Kamera so führen kann, wie ich es gerne machen würde. Jetzt hab ich das akzeptiert. Seither komm ich mit meiner Situation ganz gut zurecht.
Kürzlich ist Franz Beckenbauer gestorben. Er war überzeugt davon, dass es eine Existenz nach dem Tod gibt. Wie denken Sie darüber?
Es ist die große Hoffnung, dass dieses Leben weitergeht. Mit dieser Hoffnung bin ich als Theologiestudent angetreten, und die hat mich nie verlassen. Wie das Ganze ausschaut, da ist es immer unkonkreter geworden. Ich hoffe ganz stark auf die große Überraschung Gottes – eine wie auch immer geartete Auflösung aller Fragen. Für mich wäre der Inbegriff des Himmels, alles zu verstehen und auf alle Fragen eine Antwort zu bekommen. Wenn sich das einstellen würde, dann ist des für mich, was für den Brandner Kasper die Weißwurscht ist.
Das Interview führte Claudia Möllers
IKARUS STÜRZT
Mein Tumor, meine Filme und mein neues Leben auf Zeit, von Max Kronawitter, 272 S., Verlag Herder, 24 Euro. Der Reinerlös geht an das Projekt Müllkinder und die Beratungsstelle für visuelle Wahrnehmung.