Fachkräftemangel: Abwerbung auf offener Straße

von Redaktion

VON PETER T. SCHMIDT

München – Wenn Christian Schmidt von einem Einsatz zu seinem Kundendienstfahrzeug zurückkommt, klemmt oft eine Visitenkarte hinter dem Scheibenwischer. Ein Gruß von der Konkurrenz, die ihn abzuwerben versucht. Auf Baustellen, wo mehrere Unternehmen arbeiten, wird der 29-Jährige auch direkt angesprochen: „He, willst du nicht zu uns kommen?“, heißt es dann.

Schmidt kennt das, seit er vor fünf Jahren als Anlagenmechaniker bei dem alteingesessenen Münchner Betrieb Heizung Obermeier angefangen hat. Aber in jüngster Zeit häuften sich die Fälle, es sei mehr Nachdruck dahinter „und manchmal wirkt das fast schon verzweifelt“, berichtet er. Sein krassestes Erlebnis: „Ich stand an der Ampel, links neben mir hielt ein anderes Handwerkerauto. Der Beifahrer hat mir ein Zeichen gegeben, ich soll die Scheibe runterkurbeln. Dann hat er mir eine Visitenkarte rübergereicht und gesagt, ich soll doch mal anrufen, sie suchen Leute.“ Der 29-Jährige weiß von Unternehmen, die ihre Monteure in neutralen Lieferwagen ohne Firmenaufdruck durch die Stadt schicken, damit sie weniger auffallen.

In der Branche spricht man nicht gern über solche Praktiken. Manche Unternehmen behaupten auf Anfrage, sie wüssten davon nichts, andere haben durchaus einiges zu berichten, wollen dies aber nicht mit ihrem Namen verbunden sehen. Etwa die Mitarbeiterin eines Betriebs, der in München Heizungskundendienst anbietet. „Sogar unseren Chef haben sie schon angehauen – wahrscheinlich, weil sie nicht wussten, dass er der Chef ist“, erzählt sie am Telefon. Doch sie hat auch Verständnis für solche Vorstöße: „Es ist ja fast die einzige Möglichkeit, an Personal zu kommen. Die, die auf dem Markt sind, willst du entweder nicht haben, oder sie haben Gehaltsvorstellungen, dass dir schlecht wird.“

Christian Schmidts Chef Olaf Zimmermann, gleichzeitig Obermeister der Sanitär-Heizung-Klima-Innung München, sieht das weniger locker. Ebenso wie Franz Xaver Peteranderl (siehe Interview), Präsident der Handwerkskammer (HWK) für München und Oberbayern, macht ihm die Entwicklung Sorgen. „Wir haben einmal eine Ethik gehabt, dass man zu seinen Kollegen fair ist“, sagt Zimmermann. „Aber das gibt’s nicht mehr. Der Ehrenkodex ist weg.“ Der Unternehmer hat von Kopfprämien gehört, „da heißt es dann: Du kriegst 1000 oder 2000 Euro, wenn du einen bringst“, und er ist nicht gut zu sprechen auf „Kollegen, die wohl kein eigenes Büro haben. Die hängen dann in der Cafeteria vom Abhollager rum und versuchen Leute abzugreifen.“

Zimmermann ist bewusst, dass seine Mitarbeiter umworben werden, wann immer er sie auf Lehrgänge schickt. Verhindern kann er das nicht. Er kann nur Wechsel-Gelüsten vorbeugen. Mit Geld allein sei das nicht zu machen, sagt er. „Ich kann nicht jeden Preis zahlen. Ich muss halt versuchen, meiner Mannschaft zu erklären, dass jeder das kriegt, was er verdient.“

Wichtig sei, dass sich die Mitarbeiter wertgeschätzt fühlen, predigt der Obermeister seinen Innungs-Kollegen. Wie man Fachkräfte gewinnt und hält, sei „ein ganz wichtiges Thema“. Zimmermanns Rat: Jeder solle sich seine Leute selber ranziehen, statt bei der Konkurrenz zu wildern. Doch hier, fährt er fort, habe es Versäumnisse gegeben. „Es ist viel zu spät ausgebildet worden“, räumt der Innungschef ein. Jetzt stehe man mit knappen Personalreserven vor einem Auftragsberg.

Nun soll die Ausbildung wieder Fahrt aufnehmen. Doch das ist nicht so einfach. Zwar hat das Handwerk allein in Oberbayern sein Lehrstellenangebot 2022/23 um knapp elf Prozent auf 11 300 Plätze ausgeweitet, meldet die HWK für München und Oberbayern. Doch es fehlt an Bewerbern. 3300 Ausbildungsplätze, fast 30 Prozent, blieben unbesetzt – laut HWK „die größte jemals ermittelte Bewerberlücke“. Bei den Fachkräften sieht es nicht besser aus: Bayernweit fehlten 40 000 Handwerker, sagt ein Sprecher der Kammer.

Währenddessen wächst Christian Schmidts Visitenkarten-Sammlung. Es sei ja ganz beruhigend zu wissen, dass es Alternativen gebe, sagt der Heizungsspezialist und lacht. Doch angerufen hat er noch keine der Nummern. Er fühlt sich wohl in seinem Betrieb, hat keine Wechsel-Ambitionen. Als lästig empfinde er die Avancen der Kollegen nur selten. „Die sind ja nicht aufdringlich“, sagt er. „Man redet halt miteinander, und dann schwärmen sie davon, wie toll es in ihrer Firma ist und wie viel Urlaub sie haben.“ Der 29-Jährige hört zu und denkt sich seinen Teil. „Wenn es bei denen so toll ist, warum fehlen ihnen dann die Leute?“, fragt er grinsend.

Die meisten Kollegen, so vermutet Schmidt, rührten die Werbetrommel nicht im Auftrag ihres Chefs. „Die sind wahrscheinlich so mit Arbeit zugeschüttet, dass sie nach jedem Strohhalm greifen, von dem sie sich Entlastung erhoffen.“ Dass gerade die Heizungsmonteure oft zu Headhuntern in eigener Sache werden, überrascht bei der Handwerkskammer niemanden. Heizungs- und Klimatechnik gehörten neben dem Elektriker-Handwerk zu jenen Gewerken, denen die Energiewende besonders viel Arbeit beschert habe, sagt der Sprecher. Die Folgen: Für die Kunden wird es immer schwieriger, einen Handwerker zu finden, denn viele Betriebe nehmen keine Neukunden mehr an. Entspannung sei nicht in Sicht, sagt Zimmermann. Der Ansturm werde noch Jahre anhalten. Im Moment sei es zwar etwas ruhiger, aber das sei leicht zu erklären: „Die Leute sind gerade zögerlich und warten ab, wie es in Berlin weitergeht.“ Christian Schmidt wird wohl noch viele Visitenkarten zugesteckt bekommen.

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