München – Amos Yadlin, 72, Ex-General der israelischen Armee und Ex-Leiter des Militär-Geheimdienstes Aman, ist als Präsident des Strategie-Instituts „Mind Israel“ einer der führenden Sicherheitsexperten Israels. 2015 war er für die Partei Zionistische Union, ein 2014 gegründetes und Anfang 2019 aufgelöstes Mitte-Links-Bündnis, bei der Parlamentswahl der Kandidat fürs Verteidigungsministerium.
Herr Yadlin: Haben Sie noch Hoffnung für die mehr als 130 Geiseln, die noch immer in den Fängen der Hamas sind?
Ja. Wir haben zwei Ziele in diesem Krieg: die Hamas so zu entwaffnen, dass sie nie wieder fähig sein wird, Israel anzugreifen. Das zweite Ziel ist, die Geiseln nach Hause zu holen. Dieses Ziel ist jetzt das dringlichere! Der israelische Staat war nicht fähig, diese Menschen zu schützen. Deshalb muss es höchste Priorität haben, sie zu befreien.
Benjamin Netanjahu hat gesagt, dass er bei den Verhandlungen um die Geiseln keinem Deal zustimmen werde, der gegen Israels Sicherheitsinteressen spricht.
Natürlich stellt die Hamas unerfüllbare Bedingungen, etwa den totalen Rückzug Israels aus Gaza und die Freilassung von tausenden von Häftlingen, die Blut an ihren Händen haben. Aber irgendwo in der Mitte können wir uns mithilfe der Vermittlung Katars und Ägyptens treffen – so schnell wie möglich.
Aber die Hamas wird doch nie alle Geiseln freilassen – damit würde sie ja ihre menschlichen Schutzschilder aufgeben.
Die Freilassung soll in mehreren Stufen erfolgen, und als Erstes sollen ältere und kranke Geiseln freigelassen werden. Viele der Frauen unter den Geiseln werden seit Wochen immer wieder vergewaltigt – sie müssen so schnell wie möglich da raus.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat entschieden, Israel müsse mehr tun, um Zivilisten zu schonen. Ändert das die israelische Militärstrategie?
Nicht im Geringsten. Die südafrikanische Klage gegen Israel ist lächerlich. Die Hamas ist es, die alle Regeln des Menschenrechts bricht. Deren Kämpfer töten, vergewaltigen. Sie köpfen Babys vor den Augen ihrer Eltern. Sie benutzen die palästinensische Bevölkerung als menschliches Schutzschild. Die Hamas ist für das menschliche Leid im Gazastreifen verantwortlich. Die israelische Armee führt dort eine sehr vorsichtige Kampagne durch. Das Zahlenverhältnis zwischen getöteten unschuldigen Opfern und getöteten Kämpfern ist besser als in all den Kriegen gegen den Terror der USA und der Briten.
Auch die USA kritisieren Israels Kriegsführung. Verstehen Sie deren Kritik?
Ich verstehe deren Sorge um die palästinensischen Zivilisten, ich teile diese Sorge. Israel hat die Kriegsführung schon vor der Entscheidung des UN-Gerichts geändert. Als wir auf Chan Yunis marschierten, haben wir die Strategie darauf eingestellt, dass dort viele Zivilisten sind. Deshalb sind die Opferzahlen unter Zivilisten jetzt deutlich geringer als beim Angriff auf Gaza. Israel warnte die Zivilisten vor den Angriffen auf Gaza, die Stadt zu verlassen – doch die Hamas ließ sie nicht gehen, deshalb gab es dort so viele Opfer.
Die US-Regierung bemängelt auch, dass Netanjahu kein klares Ziel für die Zeit nach dem Krieg formuliert. Hat Biden da Recht?
Ja, Netanjahu hat keinen Plan für den Tag nach dem Sieg über die Hamas. Für mich ist klar: Ich will nicht, dass die Hamas in Zukunft Gaza regiert. Und ich will nicht, dass Israel Gaza dauerhaft besetzt. Deshalb müssen wir schon jetzt definieren, welche Regierung wir in Zukunft für Gaza und das Westjordanland haben wollen. Es muss gelingen, dort eine Regierung zu installieren, die vom Westen und unseren arabischen Nachbarn akzeptiert wird. Wenn das nicht gelingt, wird die Hamas wieder zurückkommen! Es ist also im israelischen Interesse, dass eine technokratische palästinensische Regierung eingesetzt wird, die von Ägypten, den Saudis und den Emiraten unterstützt wird. Gaza muss demilitarisiert und entradikalisiert werden.
Warum kümmert sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nicht darum?
Ich denke, weil er seine extrem rechten Koalitionspartner fürchtet, von denen er abhängig ist. Netanjahu stellt hier sein politisches Überleben über das Interesse Israels.
Was wird der Endpunkt dieses Krieges sein? Wenn alle Hamas-Führer wie Mohammed Deif or Jahia Sinwar getötet wurden?
Die Hamas-Führer müssen nicht tot sein, sie könnten Gaza verlassen, so wie Arafat 1982 Beirut verließ. Aber es geht nicht nur um die Anführer, sondern darum, dass die Hamas jegliche Kontrolle über Gaza verliert. Zudem müssen ihre militärischen Fähigkeiten vollkommen zerstört werden. Bis jetzt hat Israel 17 der 24 Bataillone der Hamas vernichtet. Diese Mission muss vollendet werden.
Wie lange wird das dauern?
Etwa ein Jahr, wenn ich an die Erfahrungen der USA im Kampf gegen den Islamischen Staat in Mossul und Raka denke. Der militärische Teil des Kampfes gegen den IS dauerte neun Monate – aber es gab dort keine iranischen Hightech-Waffen und kein Tunnelsystem wie in Gaza. Die Aufgabe ist also viel schwieriger als die im Kampf gegen den IS. Aber die israelische Armee ist auch besser als die Allianz gegen den IS.
Wird es nach einem Sieg über die Hamas einen Krieg gegen die Hisbollah im Libanon geben?
Nicht unbedingt. Wir bevorzugen immer die Diplomatie. Und es gibt die UN-Resolution 1701, wonach alle Militärs im Libanon entwaffnet werden müssen. Laut dieser Resolution muss sich die Hisbollah aus der Grenzregion zu Israel zurückziehen. Das muss durchgesetzt werden. Wenn sich die Hisbollah aber nicht von der Grenzregion zurückzieht, wird Israel seinen Job erledigen müssen und die Hisbollah dort vertreiben. Aber es gibt massive Bemühungen für eine diplomatische Lösung, auch mithilfe der USA und Frankreichs.
Wie sehen Sie die Rolle des Iran? Haben die Mullahs die totale Kontrolle über die Hisbollah und die Huthi im Jemen?
Iran hat großen Einfluss, weil er diese Gruppen mit Geld und modernen Raketensystemen versorgt. Aber Hisbollah wie Huthi unterstehen nicht dem direkten Kommando des Iran. Teheran nutzt die Hisbollah als Abschreckungswerkzeug, als Drohkulisse zurückzuschlagen, falls es Angriffe der USA oder Israels auf ihre Atomanlagen gibt. Teheran ermutigt die Hisbollah also nicht aktuell zum Krieg, aber sie genießen es, wenn es wie jetzt begrenzte Schießereien gibt.
Welche Zukunft sehen Sie? Ist die Zwei-Staaten-Lösung, also ein Palästinenser-Staat neben Israel, tot?
Ich sehe durchaus eine Chance für die Zwei-Staaten-Lösung, aber dafür muss die Palästinensische Autonomiebehörde völlig reformiert werden. Derzeit besteht die Palästinenser-Regierung zur Hälfte aus der Hamas, die Israel auslöschen will. Und die andere Hälfte ist die Autonomiebehörde im Westjordanland, die schwach und korrupt ist und keinen Rückhalt mehr in der eigenen Bevölkerung hat. Wir brauchen eine neue Palästinenser-Regierung, die Hetze aus den Schulbüchern streicht, die den Terror nicht unterstützt. Dann wird die Zwei-Staaten-Lösung ein Baustein einer Friedenslösung für die ganze Region sein, die auch den Iran mit einschließen muss. Der Iran hat alle Versuche einer Zwei-Staaten-Lösung torpediert, ohne eine Änderung in Teheran wird es keinen Frieden geben.
Sie haben ethische Dilemmata im Krieg wissenschaftlich untersucht. Gibt es einen Ausweg aus der Zwickmühle, die Hamas zu besiegen und dabei Zivilisten zu schonen?
Es gibt hier nicht die eine Lösung. Aber wir haben die Pflicht, nicht nur die Israelis zu schützen, sondern auch die Palästinenser, die den Terror der Hamas nicht unterstützen. In Gaza ist es auch deshalb schwierig, weil die Hamas großen Rückhalt in der Bevölkerung hat. Die Verschleppungen und Vergewaltigungen der Geiseln wurden teilweise von der ganzen Straße gefeiert! Aber auch wenn die Doktrin, die ich 2005 veröffentlicht habe, nie formal von der israelischen Armee übernommen wurde: Die Soldaten im Gazastreifen handeln bestmöglich nach dieser Doktrin. Das israelische Militär greift Hamas-Stellungen an, nicht Zivilisten!
Interview: Klaus Rimpel