„Die Mauer in den Köpfen wächst wieder“

von Redaktion

INTERVIEW Tagesthemen-Moderatorin Jessy Wellmer sieht eine neue Entfremdung zwischen Ost und West

München – Jessy Wellmer, 44, ist in Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern geboren. Sie wuchs in der DDR auf und war neun Jahre alt, als die Mauer fiel. Fast 35 Jahre später attestiert die Moderatorin der „Tagesthemen“ der Bundesrepublik eine neue Entfremdung zwischen Ost und West. Darüber hat sie ein Buch geschrieben, das heute erscheint. Im Interview erklärt Wellmer, warum ihrer Meinung nach die Mauer in den Köpfen wieder wächst und was das mit der Flüchtlingskrise, Corona und Wladimir Putin zu tun hat.

Wie hoch ist die Mauer in den Köpfen noch?

Leider viel höher, als ich es mein jugendliches Leben lang für möglich gehalten hatte. Ich hatte mich von dem Thema persönlich eigentlich schon verabschiedet. Aber seit den Krisen der letzten Jahre – Flüchtlingskrise, Corona und der Krieg Russlands gegen die Ukraine – wächst die Mauer wieder. Natürlich war auch vorher nicht alles in Ordnung, aber es ist jetzt etwas aufgebrochen, was längst verheilt schien. Wir sind nicht mehr auf dem Weg zusammenzuwachsen, sondern wir entfernen uns wieder voneinander. Das macht mir Sorgen.

War Corona ein Faktor?

Corona breitete sich ja zunächst vor allem im Westen der Republik aus. Viele Menschen im Osten, auch Verantwortliche in den Landesregierungen, vertraten deshalb die Meinung: „Wir haben mit dieser Krankheit nichts zu tun.“ Das war falsch. Am Ende waren die Todeszahlen schließlich in fast allen ostdeutschen Bundesländern höher als im Westen. Die Beschränkungen haben aber viele im Osten so empfunden, als solle ihnen etwas von oben – und vom Westen – aufgedrückt werden. Das führte zu Gegenwehr und auch zu Trotzreaktionen.

Warum lässt der Krieg in der Ukraine die Mauer in den Köpfen wachsen?

Viele Menschen im Osten empfinden die Haltung des Westens gegenüber Russland als Siegermentalität. Sie haben den Eindruck, der Westen fühle sich moralisch überlegen, stehe auf der richtigen Seite. Putin und die Russen seien böse, die Ukrainer die Guten. Viele empfinden das als ein westliches Gut-Böse-Schema – wie aus einem James-Bond-Film. Sie haben das Gefühl, dass der Westen dem Osten sagen will, was er zu denken hat. Deswegen solidarisieren sie sich mit den Russen. Manche rechtfertigen sogar Putins Angriffskrieg.

Wut auf den Westen als Rechtfertigung für einen Angriffskrieg?

Ich finde das falsch. Aber ich glaube schon, dass da bei vielen, die Putins Verantwortung für diesen Völkerrechtsbruch relativieren, andere Erfahrungen reinspielen. Ich glaube, dass viele im Osten das Gefühl der moralischen Überlegenheit des Westens als persönlichen Angriff auf ihre eigene Identität sehen. Ähnlich wie vor 20 oder 30 Jahren. Und wieder geraten sie in den alten Rechtfertigungszwang, weil der Westen schon einmal ihr Leben als falsch betrachtet und beurteilt hat. Ich erlebe oft, dass dabei auch Dinge gerechtfertigt werden, die eigentlich nicht zu rechtfertigen sind.

Als drittes benennen Sie Migration als Ursache.

Es gibt auch im Osten eine große Hilfsbereitschaft, ehrenamtliches Engagement für Geflüchtete. Menschen, die Syrer oder Ukrainer bei sich aufgenommen, ihnen geholfen haben. Ich beobachte aber was auch Soziologen beschreiben: Dass sich viele Ostdeutsche selbst als Angehörige einer benachteiligten Minderheit empfinden. Das kann zu einer Art Konkurrenzbewusstsein führen und manchmal zu der Fehlwahrnehmung, Geflüchteten oder Asylbewerbern werde größere Zuwendung zuteil als „unseren Menschen“. Geflüchtete erfahren so vielfach weniger Solidarität und Empathie. Populisten haben auf diese Ängste eine einfache Antwort: „Die müssen alle weg!“ „Remigration!“ Der Rechtspopulismus verfängt, wie wir wissen, auch im Westen, aber er fällt im Osten oft auf besonders nahrhaften Boden.

Im September sind in Sachsen, Thüringen und Brandenburg Landtagswahlen. Umfragen sehen eine sehr starke AfD. Welche Rolle spielt die AfD bei der neuen Entfremdung?

Populisten nutzen sie aus. Das gilt nicht nur für Rechtspopulisten. Populisten wissen, dass viele Menschen im Osten von den Umbrüchen und Lebensbrüchen nach dem Ende der DDR erschöpft sind. Sie versprechen, das große Rad einfach zurückzudrehen: Klimaschutz, Diversität, Flüchtlinge – brauchen wir alles nicht. Wir wollen nur dafür sorgen, dass ihr den Wohlstand, den ihr euch seit den 1990er-Jahren erarbeitet habt, behalten könnt. Sie versprechen, dafür zu sorgen, dass den Menschen keine weiteren Anstrengungen zugemutet werden.

Macht Ihnen dieser Populismus Angst?

Diese scheinbar einfachen Lösungen sind in der Regel verbunden mit dem Abbau von Freiheit, Vielfalt und Demokratie. Es geht ja immer darum, demokratische Institutionen, die Unabhängigkeit der Justiz oder die der Medien zu beschädigen. Viele Ostdeutsche haben nach 1990 Enttäuschungen erfahren, haben ihr Leben in der Demokratie nicht nur als Fortschritt erlebt. Und so gibt es leider bei vielen eine Skepsis gegenüber demokratischen Institutionen. Ich finde den Gedanken, dass ich mit neun Jahren in eine Demokratie hineingehen konnte, dort alle Möglichkeiten hatte und dass dies jetzt wieder vorbei sein könnte, schwer erträglich. Ich bin überzeugt, dass es den meisten im Osten genauso geht. Darum sollten sich alle, die aus einem Gefühl der Demütigung oder des Trotzes heraus handeln, bewusst machen, welchen Preis sie persönlich und wir alle dafür womöglich zahlen müssen.

Die Zustimmungswerte für die Demokratie sind im Osten teilweise geringer. Woran liegt das?

Ich muss hier noch mal sagen, dass sehr viele nach der Wiedervereinigung positive Erfahrungen gemacht und die Freiheit für sich und ihre Kinder genutzt haben. Und die große Mehrheit der Menschen im Osten lehnt ja die Demokratie keineswegs ab. Aber viele haben schlechte Erfahrungen gemacht – Umbruch, Jobverlust, das Gefühl der Demütigung und Zweitklassigkeit, Enttäuschung. Das Besondere am Osten ist, dass sich viele auf eine Erklärung für ihren Frust einigen können: Der Westen ist schuld. Und mit ihm sein „System“. Natürlich gibt es auch jene, für die die Idee des Sozialismus weiter erstrebenswert ist, auch wenn sie unter Führung der alten weißen Männer um Erich Honecker nicht die beste Umsetzung gefunden habe.

Sie führen seit fast 25 Jahren ein sehr westdeutsches Leben. Besteht nicht die Gefahr, dass Sie im Osten zur Reizfigur werden?

Ich führe kein westdeutsches Leben. Ich bin in der DDR geboren und durch meine Eltern und ihre Generation eng mit diesem Land verknüpft. Ich bin also ostdeutsch. Aber ich kann ostdeutsch sein, ohne mich über die Abgrenzung zum Westen zu definieren. Ich lebe in der früher geteilten Stadt Berlin, meine Eltern leben in Güstrow, meine beiden Kinder verbringen ihre Ferien dort, ich arbeite in Hamburg. Ich bin ein Kind dieses wiedervereinigten Landes – nicht eine Ostdeutsche, die sich in den Westen geschmuggelt hat. Aber tatsächlich wird mir genau das mitunter vorgeworfen. Manche, vor allem Ältere, können diese Perspektive nicht anerkennen und glauben, Sie könnten mir erklären, wie ich mein Leben zu führen hätte. Mir ist klar, dass ich mit meinen Thesen im Osten auch polarisiere.

Der Osten mag Sie nicht?

Es gibt ja nicht den Osten. Das ist eines der Hauptthemen des Buches. Es gibt Millionen unterschiedlicher Erzählungen über ein Leben in der DDR und darüber, was die Vergangenheit mit dem Jetzt zu tun hat. Es gibt einen großen Streit über die Deutungshoheit. Ich werde von Ostdeutschen kritisiert und ich bekomme von Ostdeutschen sehr viel Zuspruch.

Glauben Sie, dass Sie das Verschwinden der Mauer in den Köpfen noch erleben werden?

Ich sehe, dass das Thema für meine Kinder schon jetzt keine Rolle mehr spielt. Ich glaube, wir Mittvierziger können helfen, die Mauer noch zu unseren Lebzeiten verschwinden zu lassen. Ich versuche, meinen Beitrag zu leisten, aber ich kann nicht garantieren, dass es klappt.

Interview: Philipp Hedemann

DAS BUCH

„Die neue Entfremdung. Warum Ost- und Westdeutschland auseinanderdriften und was wir dagegen tun können“, erscheint heute im Verlag Kiepenheuer & Witsch. 24 Euro.

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