Oxford – Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen. Als Reaktion hat die EU massive Sanktionen gegen rund 2000 Einrichtungen, aber auch Einzelpersonen wie Präsident Wladimir Putin, prominente Geschäftsleute und Oligarchen verhängt. 21,5 Milliarden Euro an Vermögenswerten wurden eingefroren, 300 Milliarden an Zentralbankgeldern blockiert, Russland darf kein Öl mehr nach Europa einführen und viele Technologiegüter nicht mehr importieren. Nun die Nachricht: Russlands Wirtschaft ist um 3,6 Prozent gewachsen. Haben die Sanktionen versagt? Der Ökonom und Russlandexperte Michael Rochlitz von der Universität Oxford gibt Antwort.
Russland ist trotz Sanktionen wirtschaftlich nicht in die Knie gegangen. Ist das eine Überraschung?
Die meisten Experten haben anfangs geglaubt, dass die Wirtschaft massiv einbrechen wird. 2022 lag das Minus aber nur bei zwei Prozent (jetzt spricht Rosstat sogar von nur 1,2 Prozent. Siehe Artikel unten). 2023 ist Russlands Wirtschaft sogar um 3,6 Prozent gewachsen. Das kam überraschend – und hat Gründe: In den ersten Kriegswochen hat Russland davon profitiert, dass einige EU-Staaten wie Deutschland abhängig von russischen Rohstoffen waren. Die Sanktionen haben die Preise von Öl und Gas nach oben getrieben, trotzdem kauften viele Staaten zunächst weiter Putins Rohstoffe, weil man sich erst nach Alternativen umschauen musste. Das hat Moskau viel Geld in die Staatskasse gespült. Seit Ende 2022 versucht das Land, sein Öl mit einer eigenen Tankerflotte nach China und Indien zu liefern und so die Sanktionen zu umgehen. Auch das funktioniert recht gut. Entscheidend waren aber drei andere Dinge.
Welche?
Russland war besser auf die Sanktionen vorbereitet als erwartet. Russische Firmen leben seit der Finanzkrise 2008, den Sanktionen 2014 und Corona ständig in Erwartung großer Krisen und haben entsprechend Reserven angehäuft. Zweitens hat die russische Zentralbank sehr schnell und kompetent auf den Schock der Sanktionen reagiert. Drittens hat der Kreml mittlerweile komplett auf Kriegswirtschaft umgeschaltet.
Kriegswirtschaft heißt?
Russlands Wirtschaft ist inzwischen fast völlig dem Ziel unterworfen, den Krieg zu gewinnen. In der EU oder den USA läuft das Leben dagegen normal weiter. Man unterstützt die Ukraine zwar mit Geld und Waffen. Aber nur, solange es wirtschaftlich und finanziell nicht zu weh tut.
Das bedeutet für den Krieg?
Russland produziert die Ukraine derzeit im Bezug auf Waffen und Munition an die Wand. Es ist ein Abnutzungskrieg, eine Materialschlacht. Und der Kreml wirft alles in die Waagschale: In diesem Jahr fließen 40 Prozent des Haushalts und sechs bis acht Prozent der Wirtschaftsleistung ins Militär, die Bundeswehr bekommt in Deutschland nicht einmal 1,5 Prozent. Dieser Kraftakt ist auch der Grund, weshalb die russische Wirtschaft 2023 um 3,6 Prozent gewachsen ist.
Die Sanktionen sollten Putins Wirtschaft schrumpfen, nun wächst sie sogar?
Das sieht nur auf dem Papier so aus. Die Rüstungsindustrie ist im Moment der Motor der russischen Wirtschaft und für den Strukturwandel sind riesige Investitionen nötig. Hier werden alle Reserven hineingepumpt – das bläht das Wachstum auf. Jeder produzierte Panzer, jede produzierte Granate spiegelt sich erst mal positiv im Wirtschaftswachstum wider. Zudem werden viele Panzer gleich wieder in der Ukraine zerstört, und müssen erneut produziert werden. Es ist, als würde man alle Scheiben einer Stadt täglich einschlagen und tags darauf reparieren. Auch das erzeugt zunächst Wachstum. Es ist aber kein Modell für die Zukunft. Es macht ja einen Unterschied, ob man sein Geld in Panzer oder in neue Industrien steckt, die Wohlstand schaffen.
Russland kann aber trotz der Sanktionen weiter Waffen herstellen.
Zurzeit setzt Russland in erster Linie ältere Waffen, Raketen und Panzer ein. Diese alte Technik kann man trotz Sanktionen bauen.
Wie lang kann Putin diesen Kraftakt durchhalten?
Nicht endlos, aber sicher noch ein paar Jahre, vielleicht zwei oder drei. Das ist sehr schwer vorauszusagen. Die Kriegswirtschaft hat aber ihren Preis. Und der steigt, je länger der Krieg dauert. Während Putin sich voll auf die Kriegsführung konzentriert, verliert Russland in Zukunftstechnologien wie Künstlicher Intelligenz oder bei Quantencomputern den Anschluss. Auf beiden Feldern hatte man vor dem Krieg einen Fuß in der Tür. Der Wissenschaftssektor leidet massiv sowie das verarbeitende Gewerbe außerhalb des Rüstungssektors und der Tourismus. All dies waren einmal potenzielle Zukunftsbranchen für die Zeit nach Öl und Gas. Der Tourismus ist zusammengebrochen und Russlands Wissenschaft hat keine Verbindung mehr zum Rest der Welt. Viele junge und gut ausgebildete Leute sind geflohen, unter ihnen viele Computerwissenschaftler. Wenn die einmal gute Jobs im Ausland haben, kommen sie nicht zurück. Das ist das ökonomische Opfer, das der Kreml für den Krieg bringt.
Aus Russland haben sich viele Firmen zurückgezogen. Man hatte gehofft, dass das in der Gesellschaft gärt. Zu Recht?
Abgesehen von den Toten und dem Militärdienst muss die Gesellschaft bisher nur mit kleinen Einschränkungen leben. Inzwischen fallen in manchen Städten Strom und Heizung mangels Wartung aus. Auch die Regale im Supermarkt sind ab und an leer. Massenarbeitslosigkeit gibt es aber nicht – im Gegenteil. Weil Hunderttausende geflohen oder im Krieg sind, fehlen überall Fachkräfte. Das lässt die Löhne steigen. Erst wenn der Krieg zu Ende ist, werden die Russen seine Folgen spüren, weil der aufgeblähte Militärapparat dann irgendwann nicht mehr finanzierbar ist. Daran ist die Sowjetunion gescheitert und Putin ist dabei, diesen Fehler zu wiederholen.
Macht es das für Putin attraktiver, den Krieg in die Länge zu ziehen?
Das ist das Problem. Aus Putins Sicht macht ein Frieden keinen Sinn. Unter anderem, weil dann die Kosten des Krieges sichtbar würden und man keinen Plan für die Zeit danach hat. Selbst in den Jahren vor dem Überfall auf die Ukraine hat Russland seine Wirtschaft schon konsequent auf den Krieg vorbereitet.
Inwiefern?
Russland hat seit der Finanzkrise und vor allem nach den Sanktionen im Zuge der Krim-Annexion im Jahr 2014 hohe Reserven angehäuft. Putin hat parallel den Staatsapparat krisenfest gemacht. Das hat zwar einiges an Wachstum gekostet, aber die Wirtschaft gut auf das vorbereitet, was dann kommen sollte. Die regionalen Verwaltungen haben seit 2022 routiniert mit den Firmen vor Ort kooperiert, um die schlimmsten Folgen abzufangen. Auch die Zentralbank hat gut reagiert und die Wirtschaft mit einer kurzfristigen Zinserhöhung auf 20 Prozent und Kapitalkontrollen in eine Art Koma versetzt. Das hat Russland stabil durch die ersten Kriegsmonate gebracht.
Kann sich Putin auf die Eliten im Land verlassen?
Bisher schon. Ein Beispiel: Die Zentralbank-Chefin hatte zu Kriegsbeginn ihren Rücktritt eingereicht. Den hat Putin abgelehnt – und sie entscheiden, weiterzumachen. Spätestens seither stehen alle Ökonomen des Landes vor der Frage: auswandern oder mitmachen? Das hat zu vielen Zerwürfnissen geführt zwischen Ökonomen, die das Land verlassen haben, und jenen, die geblieben sind.
Und die Oligarchen?
Die Oligarchen sind alle einzeln von Putin abhängig. Wer sich gegen ihn auflehnt, verliert seine Macht, kommt ins Gefängnis oder stirbt. Nun haben alle Angst. Das ist typisch für autoritäre Staaten.
Sind die Sanktionen aus Ihrer Sicht gescheitert?
Man hatte sich mehr erhofft, das muss man wohl zugeben. Gerade beim Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem dachte man, dass das Finanzsystem des Landes zusammenbricht. Das hat die Zentralbank geschickt abgewendet. Aber von einem Scheitern der Sanktionen würde ich nicht sprechen.
Weshalb?
Die Sanktionen haben für Russland alles komplizierter gemacht. Es kann über den Weltmarkt keine Rohstoffe mehr verkaufen und keine Technik mehr einkaufen. Alles geht verschlungene Wege über China, Kasachstan, die Türkei. Ähnlich ist es mit der Finanzierung. Das alles verhindert nicht, dass Russland diesen Krieg führt, es macht es aber schwieriger. Außerdem müssen wir uns grundsätzlich fragen, wie wir reagieren, wenn ein Aggressor ein europäisches Land überfällt. Es gibt da durchaus Parallelen zum Angriff Deutschlands auf Polen im Zweiten Weltkrieg. Damals waren Frankreich und England mit Polen verbündet, haben aber militärisch nicht eingegriffen – mit den bekannten Konsequenzen. Wenn wir die Ukraine militärisch nicht stärker unterstützen wollen, sind die Sanktionen das mindeste, was wir tun können.
Hat man unterschätzt, was Russland bereit ist, für den Krieg auf sich zu nehmen?
Auf jeden Fall. Der Überfall auf die Ukraine war aus wirtschaftlicher Sicht schon immer eine Katastrophe. Auch den Krieg weiterzuführen, macht ökonomisch keinen Sinn. Das scheinen aber nicht die Kategorien zu sein, in denen Putin denkt.
Manche sagen, dass sich Deutschland mit den Sanktionen nur selbst geschadet hat. Was ist da dran?
Wir haben uns über viele Jahre von Putin abhängig gemacht – ein Fehler, der sich jetzt rächt. Aber die Sanktionen treffen Russland viel stärker als uns selbst. Sie sind nötig, um dem Kreml zu zeigen, dass wir Angriffe auf Länder in Europa nicht hinnehmen. Würden wir der Ukraine nicht beistehen, wäre sie überrannt worden. Wer weiß, wer dann der Nächste gewesen wäre.
Interview: Andreas Höß