Der Selenskyj-Besuch
Dr. Claudia Major, Politikwissenschaftlerin an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin: „Ich denke, dass der ukrainische Präsident um weitere und vor allem langfristige Unterstützung werben will – auch angesichts der Tatsache, dass die Republikaner weitere US-Hilfen blockieren. Deshalb ist es besonders dringlich für Selenskyj, den Europäern und Vertretern anderer Weltregionen ins Gewissen zu reden – und das klappt im persönlichen Gespräch bei der Siko natürlich besser als nur per Videobotschaft.“
Die Sorge um die US-Militärhilfe
Prof. James Davis, Politikwissenschaftler an der Universität St. Gallen: „Sollte der US-Kongress weiterhin zusätzliche Mittel für die Verteidigung der Ukraine verweigern, wäre es ein strategischer Fehler von historischem Ausmaß. Die Aussicht, besetzte Gebiete zurückzuerobern, würde ebenso verringert wie die Fähigkeit der Ukraine, russische Vorstöße zu stoppen. Doch die geopolitischen Implikationen reichen weiter. Wenn die USA die kollektiven Bemühungen des Westens zur Gewährleistung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Ukraine nicht unterstützen, werden sie ihre Führungsrolle in der freien Welt aufgeben. Und sie würden eine Reihe globaler Neuausrichtungen in Gang setzen, durch die am Ende die USA selbst weniger sicher und die Welt instabiler sein wird. Angesichts der Unberechenbarkeit der USA in einem polarisierten Wahljahr muss Europa seine Unterstützung für die Ukraine verstärken. Es sollte auch die heimische Rüstungsindustrie in der Ukraine weiter ausgebaut werden.“
Neuer ukrainischer Oberbefehlshaber – neue Strategie?
Prof. Carlo Masala, Politikwissenschaftler der Bundeswehr-Uni München: „Die Entlassung des bisherigen Oberbefehlshabers Saluschnyj bedeutet keine Strategie-Änderung. Selenskyj hatte schon vorher ausgegeben, dass man jetzt in die Phase der aktiven Verteidigung gehen wird. Das heißt, die Ukraine wird ihre Verteidigungslinien ausbauen und weiter den Versuch unternehmen, russische Logistik und Nachschubwege zu zerstören. Das Einzige, was sich unter dem neuen Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj ändern wird, ist, dass man noch stärker auf Drohnen und elektronische Kampfführung setzen wird.“
Kriegsmüdigkeit in der deutschen Bevölkerung
Masala: „Es gibt in der Tat eine gewisse Kriegsmüdigkeit. Aber das ist eine so wichtige Frage, dass es politischer Führung bedarf, die notfalls auch gegen die Mehrheit der Bevölkerung agiert. Da erinnere ich gerne an die Nato-Nachrüstung oder die Gründung der Bundeswehr – gegen die eine Mehrheit der Bevölkerung war. Aber wir hatten Staatsmänner, die überzeugt waren, dass dies für die Sicherheit und den Wohlstand Deutschlands so wichtig ist, dass sie bereit waren, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Zwei, drei Jahre später begrüßte die öffentliche Meinung dann mehrheitlich diese Entscheidungen.“
Major: „Die Politik muss der Bevölkerung deutlich machen, dass der Kampf der Ukrainer uns sehr wohl betrifft. Ein Sieg Putins würde die Sicherheit und den Wohlstand in Deutschland und Europa ungleich mehr treffen, als die Kosten für die Ukraine-Unterstützung es tun. Eine Welt, in der nur das Recht des Stärkeren gilt, wäre für eine Exportnation wie Deutschland eine wirtschaftliche Katastrophe. Dazu kommt: Erobert Putin die Ukraine, werden die Menschen in Massen vor dieser Besatzung fliehen. Und nicht nur Putin wird seine Lehren aus der Tatenlosigkeit des Westens ziehen und weitere Territorien zu erobern versuchen.“
Putins Kriegswirtschaft
Masala: „Weil Russland ein autoritärer, totalitärer Staat ist, konnte Putin auf Kriegswirtschaft umstellen. Putin kann einfach Befehle ausgeben. In unserer Marktwirtschaft produziert die Rüstungsindustrie nur, wenn sie langfristige Perspektiven bekommt. Das Problem war, dass nach dem russischen Angriff immer nur auf Notlagen reagiert wurde, statt eine langfristige, strategische Planung vorzunehmen, auf die sich auch die Rüstungsindustrie hätte einstellen können. Das rächt sich jetzt.“
Trump und die Nato
Major: „Trump glaubt nicht an internationale Partnerschaften. Damit glaubt er nicht an das, was unsere Lebensversicherung ist: die Nato. Wenn die USA ausfallen, fällt auch die Sicherheitsgarantie für Europa weg. Trump kann zwar aufgrund neuer Gesetze in den USA nicht so einfach aus der Nato austreten. Aber er kann Posten nicht besetzen, Militär abziehen – alles ohne auszutreten. Vor allem aber kann er die politisch-psychologische Dimension der Nato schwächen: 31 Alliierte versprechen, füreinander einzustehen. Das ist ein Signal nach außen: Wenn ihr beispielsweise Estland angreift, habt ihr es mit allen 31 zu tun. Und nach innen: Wir halten zusammen – von Estland bis Portugal. Wenn Trump sagt: Ich glaube daran nicht mehr, ist die Abschreckungskraft der Nato geschwächt. Wer glaubt einem zerstrittenem Haufen, dass sie füreinander einstehen? Und die Europäer stehen der russischen Bedrohung alleine gegenüber.“
Die EU-Atombombe
Major: „Ich bin überrascht, wie leichtfertig über so eine folgenschwere Entscheidung gesprochen wird. Jede Veränderung der nuklearen Ordnung bringt Unsicherheit für alle. Die Debatte geht am Kern vorbei: Die US-Unterstützung ist politisch, konventionell und nuklear – wir müssen alle drei Dimensionen bedenken. Dieser Fokus rein aufs Nukleare ist irritierend. Hinzu kommt: Das Konzept einer europäischen Abschreckung ist diffus. Eine gemeinsame Entscheidungsstruktur kann man ausschließen, kein Staat würde diese folgenschwere Entscheidung teilen, auch die USA machen das nicht. Vorstellbar wäre ein stärkeres Engagement Frankreichs und Großbritanniens und unter bestimmten Umständen ein Mitspracherecht und Beratungsgremien, vergleichbar mit denen in der Nato. Klar ist auch: All das funktioniert nur, wenn die Europäer gemeinsam reagieren. Es braucht dann eine wirklich europäische Verteidigungspolitik.“
Die Führungsrolle von Olaf Scholz
Masala: „Auf der rhetorischen Ebene hat Scholz deutlich gemacht, dass er Führung übernehmen will. Aber ob er erfolgreich sein wird, steht auf einem anderen Blatt. Es ist ja nicht so, dass in der EU alle Staaten gleichermaßen die Dringlichkeit einer massiven, langjährigen Unterstützung der Ukraine sehen. Deshalb wird es die Frage der nächsten Wochen sein, ob es Scholz gelingen wird, hier die EU-Partner zu überzeugen.“
Die Rolle Chinas
Major: „Peking verbündet sich insofern mit Putin, als sich beide im systemischen Wettbewerb mit den USA sehen und die Weltordnung als westlich dominiert ablehnen. Ich nenne das gerne prorussische Neutralität. Für China scheint die systemische Rivalität mit den USA das Leitmotiv zu sein. Deshalb positioniert sich China so bedacht: Es unterstützt Russland implizit, aber nicht zu offensichtlich. China nutzt den Krieg, um die USA und das westliche System zu diskreditieren und das eigene Regime zu stützen, etwa indem es von den Nebeneffekten der Sanktionen profitiert, seine Kontakte zu Afrika ausbaut. Und es versucht sich, mit sogenannten Friedensplänen, die letztlich nur russische Narrative wiedergeben, als verantwortungsbewusster Akteur darzustellen. Aber China ist auch enttäuscht von Russland, das trotz seiner Übermacht die Ukraine nicht besiegt und nicht imstande war, Russland wirtschaftlich zu modernisieren. Aus Pekings Sicht wirkt Putin wie ein Versager. Er hat einen Krieg begonnen und ist nicht in der Lage, ihn zu gewinnen.“