Selenskyj beschwört die Ratlosen

von Redaktion

VON MARCUS MÄCKLER

München – In Momenten großer Ernsthaftigkeit fällt das Absurde besonders auf. Wolodymyr Selenskyj sitzt also oben auf der Bühne im Bayerischen Hof und merkt, dass die Übersetzung nicht funktioniert. Kurz nestelt er an dem kleinen schwarzen Gerät herum, aber es will nicht. Er habe eh gedacht, dass alle ihre Fragen auf Ukrainisch stellen, sagt er, lächelt. Dann, weil die Zeit drängt: „Fangen wir an.“ Englisch geht auch.

Die kleine Episode hat Symbolwert. Denn die Frage, ob die Verständigung zwischen der Ukraine und dem Westen zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs noch stimmt, ist bei der Sicherheitskonferenz in München allgegenwärtig. Versprechen, man werde Kiew weiter unterstützen, gibt es zwar genug. Aber zugleich stockt die Hilfe. Ob bald wieder US-Milliarden fließen, ist völlig unklar. Und Europa liefert längst nicht alles, was nötig wäre.

Der Krieg überlagert alles andere bei dieser Siko – wieder, muss man sagen. Anders als im Vorjahr, als der Westen auf Kiewer Erfolge hoffte, ist die Stimmung aber düsterer. Der Tod des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny liegt von Beginn an schattenhaft über der Konferenz. Am Samstag wird dann auch noch bekannt, dass Kiews Truppen nach langem Kampf die Stadt Awdijiwka aufgegeben haben. Selenskyj spricht das an, sagt, man habe mit dem Rückzug möglichst viele Leben retten wollen. Später nennt er den Preis, den Moskau zahlte. Für einen Ukrainer seien in Awdijiwka sieben Russen gestorben. Das Aufrechnen ist ihm spürbar unangenehm.

Schon 2022 war er zu Gast in München, kurz bevor Moskau angriff. Der Mann von damals, der einen dunklen Anzug trug und mit sanftem, sorgenvollem Blick auf der Bühne stand, hat mit dem von heute nur mehr wenig zu tun. Selenskyj wirkt erschöpft, seine Stimme klingt noch rostiger als sonst. In seiner Rede bemüht er sich, nicht allzu fordernd zu sein, nicht zu klagen. Und doch klarzumachen, was auf dem Spiel steht.

„Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es Putin gelingen, die nächsten Jahre zur Katastrophe zu machen“, sagt er. 724 Tage habe sein Land nun Widerstand geleistet und „die Zerstörung der regelbasierten Welt verhindert“. Dann warnt er davor, Kiew alleinzulassen. „Russland wird uns zerstören, das Baltikum zerstören, Polen zerstören – es ist dazu in der Lage.“ 2024 müsse die regelbasierte Weltordnung wiederhergestellt werden. „Wir können das erreichen, indem wir nicht irgendetwas tun, sondern indem wir alles tun.“

Kreml-Chef Wladimir Putin nennt er ein „Monster“ – aber eines, das sich in den vergangenen zwei Jahren entzaubert hat. Die Mythen von der Überlegenheit russischer Waffen, von der Schlagkraft der Armee, von der Unmöglichkeit eines ukrainischen Sieges seien widerlegt. „In Wahrheit ist Russland in allem schlechter“, sagt er. Es habe nur einen Vorteil: die Tatsache, dass Menschenleben dem Kreml nichts wert seien. Die Möglichkeiten der Ukraine sieht Selenskyj nur durch ein „künstliches Waffendefizit“ begrenzt.

Damit sind nicht nur die US-Republikaner angesprochen, die seit Monaten neue Hilfen blockieren. Einige von ihnen trifft Selenskyj in München persönlich, die Gespräche bleiben aber diskret. Auch Europa ist gemeint, das die dringend benötigte Munition nur schleppend liefert und anderes ganz verweigert. Selenskyj spricht direkt den Mangel an weitreichenden Marschflugkörpern an, die Moskau habe, Kiew aber nicht. „Das ist die ganze Wahrheit“, sagt er. „Daher sind unsere Hauptwaffen gerade unsere Kämpfer.“

Es ist ein leiser Vorwurf, zurückhaltend formuliert, aber einer, der sich einfügt in die krisenhafte Siko-Stimmung. Hinter den Kulissen wird Kiews prekäre Situation offen angesprochen, alle wissen, dass mehr passieren muss, weit mehr. Manche sagen es auch, etwa Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. „Wir hätten die Ukraine schon sehr viel früher besser unterstützen sollen“, sagt sie später am Tag. Immerhin: Bald würden dänische F-16-Jets in der Ukraine fliegen. Frederiksen fordert, alles zu liefern, „was nötig ist“. Davon versuche sie gerade den Rest Europas zu überzeugen.

Olaf Scholz würde von sich behaupten, auf ähnlicher Mission zu sein. Der Kanzler spricht noch vor Selenskyj, was dramaturgisch nicht ohne Wirkung ist: Der „Anführer“ Europas und der Verteidiger Europas eröffnen den Tag. Scholz tut auf offener Bühne, was hinter den Kulissen längst passiert: Er redet den EU-Partnern ins Gewissen.

Trotz großer Verluste seien wesentliche Teile der russischen Streitkräfte intakt, sagt er. Der Kreml habe sich lange auf den Krieg vorbereitet. Alle müssten sich fragen, ob man genug tue, um Putin zu signalisieren, dass Europa bereit sei durchzuhalten. Später variiert er das: „Tun wir genug, wo wir alle doch genau wissen, was ein russischer Sieg in der Ukraine bedeuten würde?“ Den politischen und finanziellen Preis, den Europa dann zahlen müsste, hält der Kanzler für „ein Vielfaches höher als alle Kosten unserer Unterstützung der Ukraine – heute und in Zukunft“.

Den Osteuropäern im Saal muss Scholz das nicht erklären. Die Sätze sind eher an Länder wie Frankreich oder Italien gerichtet, deren Waffenhilfe für Kiew bisher bescheiden ist. Der Kanzler erwähnt die 28 Milliarden Euro, die Berlin beisteuert und sagt, er wünsche sich sehr „dass ähnliche Entscheidungen in allen europäischen Hauptstädten getroffen werden“. Leicht sei das nicht, klar, weil das Geld ja an anderer Stelle fehle. „Ich sage aber auch: Ohne Sicherheit ist alles nichts.“

Die Zustandsbeschreibung stimmt. Was fehlt, ist der Schritt nach vorne – bei allen. Auch Scholz muss sich hinterher fragen lassen, ob er den eigenen Ansprüchen gerecht wird. Als die Interviewerin nach seiner Rede wissen will, ob Deutschland als „kranker Mann Europas“ das Geld für die langfristige Unterstützung Kiews habe, reagiert er irritiert. Ebenso bei der Frage nach weitreichenden Taurus-Raketen, die Kiew seit einem Jahr erfolglos einfordert. Der Kanzler weicht aus, sagt aber – anders als noch im Herbst – nicht Nein. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sieht das als positives Zeichen. Andere murren, Scholz habe eine Chance vertan: Hätte er in München die Taurus-Lieferung angekündigt, heißt es, wäre das eine starke Antwort auf den Tod, die Ermordung Nawalnys gewesen.

Solche Zeichen blieben aber aus – auch die US-Republikaner lassen sich zu nichts hinreißen. Deshalb betont Selenskyj später am Tag, wie lebenswichtig die Milliardenhilfen für sein Land sind. Der Hauptadressat ist zwar weit weg, aber der Ukrainer macht ihm ein Angebot. „Wenn Herr Trump kommen möchte, bin ich bereit, mit ihm an die Front zu gehen“, sagt Selenskyj. Er werde ihm dort zeigen, was Krieg bedeutet. „Nicht der Krieg auf Instagram, sondern der wirkliche Krieg.“

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