„Scheiße, da kommt ein Zug“

von Redaktion

VON DIRK WALTER

München – Es geht gegen Mittag, die Vernehmung des Zeugen Simon S. ist fast beendet, da ruft ihm der Angeklagte mit gedämpfter Stimme noch etwas zu. „Simon“, sagt Richard Z., der angeklagte Lokführer, „es tut mir so leid.“ Dann kommen ihm die Tränen. Er nimmt seine große Brille ab und wischt sich die Augen. Der Zeuge nickt, er ist schon im Gehen, aber er sagt zum Angeklagten: „Ich bin mir sicher, du hast es nicht absichtlich gemacht.“

Richard Z. (56) und Simon S. (24) waren Kollegen, beide Lokführer bei der S-Bahn München, als sie mit ihren S-Bahn-Zügen vor nun gut zwei Jahren, am 14. Februar 2022 kurz nach halb fünf auf der eingleisigen Strecke der S7 unweit des Bahnhofs Ebenhausen-Schäftlarn zusammenstießen. Ein Mann, ein 24-jähriger Asylbewerber aus Wolfratshausen, starb bei der Kollision noch im Zug, 51 weitere Fahrgäste erlitten teils schwerste Verletzungen.

In der Anklageschrift ist aufgelistet: Wirbelbrüche, Rippen-, und Beinbrüche, Schädelhirntraumata, Schnittwunden, Platzwunden am Kopf, Schleudertrauma. Simon S. hatte 14 Knochenbrüche – an Wirbeln, Rippen, Fingern und am Fuß. Er musste drei Mal operiert werden. Trotzdem wirkt der junge Mann erstaunlich stabil. Alles sei ausgeheilt, versichert er vor Gericht. Psychologische Behandlung, die brauchte er nicht. Richterin Nesrin Reichle wirkt da fast erstaunt angesichts der Schwere des Unfalls.

Drei Sitzungstage sind für den Prozess am Amtsgericht eingeplant, doch eigentlich ist jetzt schon alles klar: Der Lokführer-Kollege von Simon S., der heute 56-jährige Richard Z., nimmt alle Schuld auf sich. Gleich zu Prozessbeginn gibt er eine Erklärung ab. „Es ist für mich unerklärlich, wieso ich solche Fehler gemacht habe“, sagt der Mann auf der Anklagebank im Münchner Strafjustizzentrum. Er hat an den Unfall keine Erinnerung mehr, trotz Traumaberatung. Und auch obwohl er Monate nach dem Unfall die Strecke zu Fuß abgegangen ist – im Bemühen, sich zu erinnern. Ergebnislos.

Doch S-Bahn-Züge haben ein Gedächtnis, eine Art Black Box wie im Flugzeug. Dadurch konnte der Unfallhergang ziemlich lückenlos rekonstruiert werden. Am 14. Februar gegen 16.24 Uhr war Richard Z. demnach mit seiner S-Bahn in Wolfratshausen Richtung München gestartet. Im Bahnhof Ebenhausen-Schäftlarn sollte sein Zug warten, bis aus der Gegenrichtung auf der eingleisigen Strecke eine S-Bahn aus München eingefahren war.

Doch Richard Z. wartete nicht. Erst überfuhr er das Ausfahrsignal 1P1, das auf Rot stand. Dann wurde er zwangsgebremst, befreite sich aber „grob pflichtwidrig“, wie es in der Anklageschrift steht, durch Betätigung einer bestimmten Taste („PZB frei“) im Führerstand seiner S-Bahn. Zwei entscheidende Fehler. Doch Z. fuhr weiter, beschleunigte bis auf 67 km/h. Nach einer Kurve stand da die entgegenkommende S-Bahn aus München. Simon S. im Führerstand dieser Bahn hatte sich noch gewundert, warum sein Zug automatisch gebremst worden war. Dann sah er das Unheil kommen. „Scheiße, da kommt ein Zug“, rief er dem Fahrdienstleiter in Wolfratshausen im Zugfunk zu. „Was?“, schrie der Fahrdienstleiter. Dann bricht die Tonbandaufzeichnung ab. Der Zusammenstoß ist für 16.35 Uhr und 37 Sekunden verzeichnet.

Richterin Reichle lässt per Beamer mehrere Unfallfotos an die Wand werfen. Beide Führerstände der Züge waren total zerfetzt. Lokführer Simon S. überlebte wohl nur, weil er Sekunden vor dem Aufprall noch zur seitlichen Tür hinaus fliehen wollte und dann in einen Hohlraum geschleudert wurde. „Das hat mir das Leben gerettet.“ Auch Lokführer Richard Z. wurde schwer verletzt – eine gebrochene Hüfte, Hämatome am ganzen Körper. Wegen Selbstmordgefahr war er nach dem Unfall stationär in psychologischer Behandlung.

Vor dem Gericht im Saal 101A sitzt ein gebrochener Mensch, der zuletzt nicht viel Glück im Leben hatte. Zum Lokführer ausgebildet wurde Z erst seit Mai 2020. Er war ein sogenannter Quereinsteiger, der eine einjährige Schulungsphase durchlief. Zuvor war der ledige Dreher im Metallbau, auch eine Privatinsolvenz erwähnt die Richterin. Bei der Verlesung der Anklage muss Z. tief ein- und ausatmen, immer wieder wischt er sich die verweinten Augen. Lokführer „war mein großer Traum“, sagt er, „schon als kleiner Junge“. Er hatte Bestnoten, „war in den Top 3“, wie sein Ausbilder als Zeuge aussagt. „Das war eine Bilderbuch-Ausbildung“, sagt dieser weiter. „Ich war sehr stolz auf mich“, sagt Z.

Nur: Warum er das Rot-Signal überfahren hat, das kann der Musterschüler von einst nicht sagen. „Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung“, sagt er. Die Erinnerung an die Minuten vor dem Unfall seien „komplett weg, alles“. Die Richterin fragt nach Vorerkrankungen, Medikamentenmissbrauch. Doch außer Blutdruck- und Cholesterinsenker nahm Z. nichts. Auch eine Durchsuchung seiner Wohnung brachte kein Ergebnis: Alles „sauber, unauffällig“, heißt es im Polizeiprotokoll. Auf seinem Handy: nur ein paar private harmlose Bilder, nichts Anstößiges, kein Handyspiel jedenfalls.

Heute fährt Simon S., der Kollege des Angeklagten, wieder S-Bahn, aber nur noch Teilzeit, wie er sagt. Er habe nachgedacht. Lokführer müssten doch viel aushalten. Nicht, dass ihm nach dem Unfall auch noch ein Selbstmörder vor das Gleis gerate und dann „wieder Bilder hochkommen“. Er studiert und will eine andere berufliche Perspektive.

Juristisch gesehen ist der S-Bahn-Unfall von Schäftlarn eine fahrlässige Tötung sowie fahrlässige Körperverletzung in 51 Fällen. Richard Z. drohen maximal vier Jahre Haft, doch seine Reue dürfte sich strafmildernd auswirken. Beruflich versucht er, wieder Fuß zu fassen – als Postbote.

Artikel 2 von 5