München – Peter umschließt den Becher Brokkoli-Suppe mit seinen kalten Händen, bevor er loslöffelt. Die Suppe ist sein erstes warmes Essen heute. Aber es ist Donnerstag – und er weiß, dass er donnerstags nicht hungrig in seinen Schlafsack steigen muss. Peter kennt Markus Grimm und Diana Beck seit zwei Jahren – seit sie mit einem Bus durch München fahren und sich um Obdachlose kümmern. Ihre erste Station ist die Sonnenstraße. Peter wartet hier schon, als der blaue Bus anhält. Noch vor der Suppe bekommt er von Diana Beck eine Umarmung. Sie möchte wissen, wie es ihm geht, was er braucht. „Habt ihr eine Creme für mich? Ich hab so trockene Haut“, sagt der 67-Jährige. Diana verschwindet kurz im Bus, dann drückt sie ihm eine Tube in die Hand. „Danke“, sagt Peter. Es kommt von Herzen.
Währenddessen wird das Gedränge vor der Bustür größer. Nicht alle nehmen sich Zeit für ein Danke. Peter wischt sich mit der Hand etwas Suppe von seinem grauen Bart, während er die anderen Obdachlosen beobachtet. „Einige hat das Leben auf der Straße aggressiv gemacht“, sagt er nachdenklich. „Das schadet uns allen.“ Hilfsbereitschaft ist überlebenswichtig, wenn man alles verloren hat.
An der Bustür steht heute Frank. Er hilft seit anderthalb Jahren im Team. Auch er kennt viele Obdachlose, begrüßt sie mit einem Lächeln. Manchmal muss er aber auch mit lauter Stimme durchgreifen, wenn der Andrang zu groß wird. An diesem Abend wird das später nötig sein. Hier in der Sonnenstraße geht es entspannt zu. Frank verteilt Decken, Jacken, fragt nach Schuhgrößen. Dann reicht ein Ruf ins Lager im hinteren Teil des Busses. Dort sind gespendete Kleidungsstücke einsortiert. Schuhe, Jacken, T-Shirts, Pullover, Mützen, Socken, Schlafsäcke, Decken. Alles, was vor der Kälte schützt.
Angefangen hat die Idee natürlich viel kleiner. Mit einem Auto und einem Topf Kartoffelsuppe. Die wollte Markus Grimm an Obdachlose verteilen. Eine der ersten Begegnungen hat er nie vergessen. Ein obdachloser Maler, der so sehr vor Kälte zitterte, dass er die Suppe nicht essen konnte. „Das hat mich unglaublich berührt.“ Seitdem hat er es nicht mehr geschafft, die Not zu übersehen. Und es ist ihm gelungen, immer mehr Menschen mitzureißen. Er gründete den Verein Marienkäfer, kaufte den Linienbus und baute ihn für seine Zwecke um. „Für uns ist es ein Herzensprojekt geworden“, sagt seine Frau. Manchmal schlafen die beiden nur zwei oder drei Stunden in der Nacht. Fast immer hören sie auf ihrer Tour Geschichten, die sie lange begleiten.
Immer donnerstags und samstags fahren sie mit ihrem Team sieben Stationen ab. Die zweite ist der Königsplatz. Ein Mann in einer Jacke, die für Februar viel zu dünn ist, bittet um eine Suppe. Er heiße Albert, sagt er. Albert lebt nicht auf der Straße – aber von Bürgergeld und einem Mini-Job. Das Geld reicht nicht für das Leben in München. „Obwohl ich nur Reduziertes kaufe. Mein Alltag besteht nur aus Rechnen“, sagt er. Oft heizt er nicht in seiner Wohnung. Etwas Warmes hat Albert seit Tagen nicht gegessen. Dass der Februar dieses Jahr 29 Tage hat, ist eine schlechte Nachricht für ihn. Ein Tag mehr, den er mit 563 Euro durchhalten muss. Deshalb ist er zum Königsplatz gefahren. „Von dem Bus habe ich im Sommer zufällig erfahren“, erzählt er. Höflich fragt er Frank, ob er noch ein Sandwich bekomme. Er steckt es ein. „Mein Mittagessen für morgen“, sagt er.
Die belegten Brote schmieren Diana Beck und die drei Helfer, während Markus Grimm den Bus vom Lager in Forstern fährt. Dort, im Kreis Erding, lebt das Paar auch. Die Semmeln bekommen sie von einer Bäckerei gespendet, Wurst und Käse kaufen sie von Spenden. Auch die Suppen finanzieren sie so. Bis zu 70 Liter können sie im Bus transportieren, das reicht für 160 Menschen. Je mehr Spenden, desto mehr Hilfe ist möglich. „Wir brauchen 15 000 Euro pro Monat, um die laufenden Kosten zu decken“, sagt Grimm. Manchmal muss er draufzahlen. Der 44-Jährige träumt davon, Firmen als Sponsoren oder Werbepartner zu finden. Das Franziskuswerk Schönbrunn und das Restaurant Bachmeier konnte er schon als Lebensmittelspender gewinnen. Es müssten noch mehr werden, sagt er. „Es müsste in jeder großen Stadt solche Busse geben.“
Station drei: im Tal. Viele Touristen beobachten den Bus neugierig. Der ein oder andere fragt nach. Diana Beck verteilt Flyer, ein Passant gibt ihr 30 Euro. Er will das Projekt unterstützen. Währenddessen drängen sich vor der Bustür Menschen mit Plastiktüten. Die Stimmung ist gereizt. Die meisten sprechen nur gebrochen Deutsch. Eine alte Frau, die nur noch einen Zahn hat, versteht Frank nicht. Der versucht, alle mit Suppe zu versorgen. Immer wieder drängt sich die Frau nach vorne. Ein anderer beginnt zu diskutieren. Er möchte einen anderen Pulli als den, den er bekommen hat. Als er immer lauter wird, muss auch Frank laut werden. Er droht damit, dass der Bus weiterfährt, erst dann beruhigt sich die Situation. Währenddessen steht Markus Grimm im Bus vor einer montierten Kamera – und moderiert. Der 44-Jährige möchte, dass die Arbeit des Vereins transparent ist. Jede Fahrt wird auf Twitch, Youtube und Kick live übertragen. An diesem Abend sind 300 Leute von zu Hause aus dabei, samstags sind es oft viermal so viel. Wer ein Abo abschließt, spendet damit. Auch Direktspenden sind möglich. Am Ende des Abends sind so etwa 800 Euro zusammengekommen.
Die letzte Station an diesem Abend ist das Isartor. Auch hier wird der Bus schon erwartet. Ein Mann mit zottigem, weißem Bart tritt mit seinem Rollator an die Bustür. „Hallo, Rallyefahrer“, begrüßt ihn Markus Grimm und umarmt ihn. Die beiden kennen sich lange. Der Rallyefahrer heißt Joshi. Er ist 71 und gebürtig aus England. Dort hat er Volkswirtschaft studiert, in Bayern machte er sich mit einem Transportunternehmen selbstständig. Ein paar Mal habe er auf die falschen Leute gesetzt, falsche Entscheidungen getroffen, erzählt er. Er verlor viel Geld, dann seine Frau, dann seine Wohnung. Seit ein paar Jahren besitzt er nicht viel mehr als das, was in ein paar Plastiktüten passt. Ein Bekannter lässt ihn im Winter in seinem Gartenhaus schlafen.
Joshi ist dankbar, das sagt er immer wieder. „Man muss positiv bleiben, anderen geht’s viel schlechter.“ Frank reicht ihm eine Decke. „Das ist aber lieb von euch“, sagt Joshi. Dann wird er nachdenklich. „Wenn man auf der Straße lebt, lernt man die Menschen so kennen, wie sie wirklich sind“, sagt er. Markus, Diana und die anderen sind Freunde für ihn. Grimm legt Joshi die Hand auf die Schulter und sagt: „Du bist einer der Menschen, für die ich das hier mache.“ Joshi lächelt, dann sagt er: „Noch besser als die warme Suppe tut es, wie ein Mensch behandelt zu werden.“
Alle Infos zum Verein
unter www.der-marienkaefer.de. Spendenkonto: DE81 7025 0150 0029 9457 89.