Mutige Frauen als Leuchtfeuer der Hoffnung

von Redaktion

VON KATHRIN BRAUN UND LEONIE HUDELMAIER

München – Die junge Frau, sie ist keine 30 Jahre alt, nimmt ihren ganzen Mut zusammen, als ihre Freundin auf den Aufnahmeknopf drückt. „Ich stehe vor dem Verteidigungsministerium der Russischen Föderation“, sagt sie in die Kamera. „Und ich habe die Hoffnung, dass mich jemand hört.“ Es hat minus 15 Grad in Moskau, die Straßen sind verschneit. Die Russin hat einen weißen Schal um den Kopf gewickelt, in den Händen hält sie ein Plakat. „Freiheit für die Mobilisierten“, steht da in russischen Großbuchstaben. „Bringt unsere Ehemänner, Väter und Söhne zurück.”

Der Name der Frau ist unbekannt. Sie ist keine Oppositionelle, keine prominente Widerstandskämpferin. Sie protestiert allein vor dem Ministerium, als Ehefrau eines Physiklehrers, der vor anderthalb Jahren unfreiwillig in den Krieg ziehen musste. Ihr gemeinsamer Sohn war damals drei Monate alt. Das Video ist eines von Dutzenden dieser Art in dem Telegram-Chat „Put Domoj“ (Weg nach Hause). Die Gruppe wurde im August vergangenen Jahres von ein paar Soldaten-Ehefrauen gegründet – mittlerweile hat sie über 70 000 Mitglieder.

Eine Bewegung ohne Anführerin

Für sie alle ist heute ein besonderer Tag: Denn der Weltfrauentag hat seine Ursprünge auch in Russland. Am 8. März 1917 gingen zigtausende Russinnen in St. Petersburg, das damals Petrograd hieß, auf die Straße, während ihre Männer an der Front im Ersten Weltkrieg kämpften. Die Frauen traten damit eine Revolution los, die am Ende sogar den Zaren stürzte und die Monarchie in Russland beendete. Und es waren kommunistische Frauen, die 1921 auf einer Konferenz in Moskau beschlossen, den Weltfrauentag künftig am 8. statt am 19. März zu begehen.

Mittlerweile ist der 8. März einer der höchsten Nationalfeiertage in Russland. Er galt nicht mehr als Tag des Widerstands – sondern vielmehr als ein Auftakt zum Frühlingsbeginn, an dem Ehemänner ihren Frauen üblicherweise Blumen und Pralinen mitbringen. Seit zwei Jahren ist das nicht mehr so. „Putin erinnert sich nicht einmal an sein eigenes Versprechen vom 8. März 2022“, sagt eine Frau der „Put Domoj“-Bewegung. Damals versicherte der Kreml-Chef in seiner Festrede, dass es keine Mobilisierung für seine „Militäroperation“ geben werde. Eine Lüge. Ein halbes Jahr später schickte er mehr als 300 000 Reservisten in die Ukraine.

Mittlerweile tauschen die Frauen von „Put Domoj“ beinahe täglich Bilder und Videos aus, wie sie auf offener Straße das Ende des Krieges fordern – meist in kleinen Gruppen oder allein, fast immer mit einem weißen Kopftuch als Erkennungsmerkmal. Sie gehören keiner größeren Bewegung an, organisieren keine Großdemos. Eine Anführerin gibt es nicht. Berühmte oppositionelle Frauen wie Julija Nawalnaja, die sich seit dem Tod ihres Ehemannes Alexej als neues Gesicht des russischen Widerstands zeigt, sitzen im Exil. Auf Russlands Straßen sind die Soldatenfrauen die letzten Widerstandskämpferinnen.

Ihr Protest ist still, friedlich, oft legen sie nur rote Nelken für die Rückkehr ihrer Männer nieder. Trotzdem sind sie dem Kreml ein Dorn im Auge. Eine Abgeordnete der Regierungspartei „Einiges Russland“ hatte kürzlich gefordert, den Kanal als extremistische Organisation einzustufen. Seitdem kennzeichnet Telegram ihn als „Fake“.

Der Kampf der Frauen ist frustrierend. „Wir alle sind furchtbar müde“, schreibt eine Frau der „Put Domoj“-Gruppe auf dem Portal. „Es ist schwierig, den emotionalen Zustand zu beschreiben, in dem wir seit anderthalb Jahren schmoren.“ Trotzdem will sie ihren Mitstreiterinnen Mut machen. „Eine tiefe Verbeugung vor denen, die keine Angst haben. Ihr seid stark und mutig.“ Eine andere Frau verspricht, dass sie jeden Tag das weiße Tuch tragen wird – als Symbol der Hoffnung für die Rückkehr ihres Mannes. „Aber es könnte jeden Tag durch ein schwarzes ersetzt werden.“

In Belarus sind viele Frauen verstummt

Auch im Nachbarland Belarus haben die Frauen ihre Ehemänner an ein repressives Regime, an einen unterdrückenden Herrscher verloren. „Der heutige Tag ist für mich persönlich auch ein düsterer Jahrestag“, sagte die belarussische Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja mit Blick auf den Weltfrauentag unserer Zeitung. „Ein ganzes Jahr ist vergangen, ohne dass ich etwas von meinem Mann Siarhei (Sergej) gehört habe, der vom Regime in Isolationshaft gehalten wird.“

Widerstand gibt es in Belarus keinen mehr – weder gegen den Ukraine-Krieg noch gegen das Regime. „Offene Proteste sind nahezu unmöglich geworden“, sagt Tichanowskaja. Alles beginnt im Mai 2020. Noch ist der Ukraine-Krieg nicht ausgebrochen, doch Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenko gilt schon lange als Marionette des Kreml-Chefs. Der Blogger Sergej Tichanowski kündigt an, gegen Lukaschenko bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 anzutreten – und wird verhaftet.

Für ihn rückt seine Frau an die vorderste Front. Tichanowskaja verleiht mit zwei weiteren Frauen dem Widerstand ein Gesicht: Maria Kolesnikowa, Stabsleiterin des inhaftierten Oppositionellen Viktor Babariko, tritt für ihren Chef an; Veronika Zepkalo für ihren Ehemann Waleri. Sie führen den Kampf der unterdrückten Oppositionellen weiter. Durch Belarus’ Straßen marschieren tausende Frauen, auch hier in Weiß, mit Blumen in den Händen. Bewacht von schwarz uniformierten Polizisten mit Schlagstöcken und Sturmmasken.

Der Kampf geht aus dem Exil weiter

Die Frauen in Weiß prägen die belarussische Revolution. „Diese Bewegung hat gezeigt, welche starke Rolle Frauen im Kampf für Demokratie und Freiheit spielen können“, sagt Tichanowskaja. „Wir vertraten einen anderen, menschlicheren Ansatz für Politik und Staatsführung.“ Der Protest hat Kraft gegeben, Angst genommen. Eine Emanzipation der Gesellschaft.

Heute ist die Angst zurück. Fast vier Jahre später hält sich Lukaschenko noch immer an der Macht. Die Wahl von 2020 gilt als manipuliert. Tichanowskaja beansprucht den Wahlsieg für sich. Sie lebt im Exil in Litauen, Zepkalo in Griechenland, Kolesnikowa ist zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Der Widerstand ist in den Köpfen, nicht mehr auf den Straßen.

Wie eine Computerviruswarnung läuft heute ein Banner über die Webseite der Belarus Women’s Foundation, die sich für Frauenrechte in Belarus einsetzt. „190 Frauen in Belarus sind in politischem Gewahrsam, 510 Frauen unter Hausarrest gesetzt“, steht da. Insgesamt: 1600 politische Gefangene – darunter fünf Minderjährige.

Aus dem Exil versuchen die Oppositionellen, weiter zu kämpfen. Auch dafür, dass die Erinnerung an die letzte Diktatur Europas nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verblasst. Dafür tourt Tichanowskaja durch Europa. Polen, Finnland, Österreich, Schweiz, Bulgarien, allein dieses Jahr. Immer mit dabei ihr Mann Sergej, unter ihrem Arm – als Schwarz-Weiß Bild auf ihrem Aktenordner.

„Die Stimmen der Frauen“, sagt Tichanowskaja, „haben entscheidend dazu beigetragen, Autokratien herauszufordern.“ Der weibliche Widerstandsgeist sei ein „Leuchtfeuer der Hoffnung“, nicht nur in Belarus und Russland, sondern weltweit. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar trifft Tichanowskaja auf Jullija Nawalnaja. Sie umarmen sich. Vereint im Schmerz. Vereint im Widerstand.

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