München – Die Schallplatte ist ein Vorwand. Er weiß es, sie ahnt es. Die Dame, bei der er ein paar Straßen weiter zur Untermiete wohnt, hat ihm von den hübschen Mädchen in der Dornröschenstraße berichtet. Und in dem Moment, als die 21-jährige Herta ihm die Tür öffnet, weiß Josef Widmann: Seine Vermieterin hat nicht übertrieben. Auch Herta gefällt der gut aussehende junge Mann sofort, der an ihrer Haustür steht und etwas unbeholfen nach einer Schallplatte fragt. Josef Widmann schmunzelt, wenn er sich heute an diesen Moment erinnert. Dann sagt er: „Es hat sofort geblitzt zwischen uns.“
Was die beiden damals noch nicht ahnen konnten: Es war der Moment, als der vierte Mitbewohner für eine Wohngemeinschaft gefunden war, die es in Bayern so wohl kein zweites Mal gibt. Mehr als sechs Jahrzehnte sind Josef und Herta Widmann ein Paar. Und mehr als sechs Jahrzehnte leben sie unter einem Dach mit Hertas Zwillingsschwester Margot und deren Mann Erwin. Die vier über 80-Jährigen sind mehr als Mitbewohner. Sie sind etwas ganz Besonderes – das finden zumindest ihre Kinder, Enkel und Urenkel. Alle sind in oder mit dieser besonderen WG groß geworden. Und alle kehren so oft es geht dorthin zurück. Das Dachgeschoss ist für Gäste immer geöffnet – und es wird häufig gebraucht. Denn unter diesem Dach ist die Lebensfreude ansteckend.
Erwin Stich war schon vor dem Haus da. Zwischen ihm und seiner Margot hat es beim Tanzkurs „geblitzt“. Damals wohnten die Zwillingsschwestern mit ihren Eltern schon in der Dornröschenstraße, aber in einem kleinen Behelfsbau. Erwin wurde in der Familie herzlich aufgenommen – und half tatkräftig beim Hausbau mit. Anfangs wohnten die beiden jungen Paare unter dem Dach mit Hertas und Margots Eltern zusammen. Auch das war eine besondere Zeit, erinnern sich die Männer. Sie haben in dem Haus eine Liebe erfahren, wie sie sie in ihren eigenen Familien nicht erlebt hatten. Die Eltern durften zu Hause sterben – der Zusammenhalt, den sie den jungen Menschen vorgelebt hatten, hat das Haus nie verlassen.
Die beiden Ehepaare teilen sich seit 60 Jahren das Elternhaus der Schwestern. Die Stichs wohnen unten, die Widmanns im ersten Stock. Einsam ist hier nie jemand. „Aber jeder hat seinen Freiraum“, sagt Margot Stich. „Das Verständnis füreinander ist wichtig“, betont Josef Widmann. „Und dass man sich vergeben kann“, ergänzt seine Schwägerin Margot. Mehr Worte brauchen sie nicht, um zu erklären, wie eine Wohngemeinschaft gut funktioniert.
„Meist sagen unsere Damen, wie etwas gemacht wird“, sagt Erwin Stich und lächelt Josef Widmann schelmisch zu. Die beiden Herren haben im Laufe der Jahre ihre eigene Strategie gefunden, wie man mit zwei energiegeladenen Zwillingsschwestern zusammenlebt: „Wenn es mal einen Konflikt zwischen ihnen gibt, bloß nicht einmischen“, sagt Widmann. „Sonst tun sie sich zusammen und gehen gemeinsam auf einen los.“ Schon vor langer Zeit haben die beiden Männer einen Stammtisch eingeführt – nur sie beide und zwei Gläschen Weißwein. Dann sitzen sie zusammen auf dem Sofa oder der Terrasse – und tauschen sich aus. „Auf unsere lieben charmanten und hübschen Frauen“, sagt Josef Widmann dann gerne, wenn er das Glas hebt. „Und dass sie uns in Ruhe lassen.“ Beide lachen. „Natürlich sprechen wir darüber, wenn sie uns ärgern“, sagt er und schmunzelt. „Aber wir übertreiben – die zwei sind schon in Ordnung.“
An die Verbindung, die Zwillinge miteinander haben, kommt wohl nie jemand heran. Aber das, was der 86-jährige Erwin Stich und der 83-jährige Josef Widmann sich aufgebaut haben, ist genauso wertvoll. „Ich bin ohne Geschwister aufgewachsen“, sagt Widmann. „Aber Erwin ist für mich wie ein Bruder. Auf ihn kann ich mich immer verlassen.“
Die meisten Aufgaben im Haus sind aufgeteilt, der Garten ist ein Gemeinschaftsprojekt. Dort grillen die vier gerne zusammen. Damals, im ersten Lockdown, sind Herta und Margot 80 geworden. Die Party fiel kleiner aus als geplant – sie waren nur zu viert. Und haben die halbe Nacht lang gefeiert und gelacht. „Ich lebe so gerne hier“, sagt Josef Widmann. In diesem Haus sind die Herzen offen und das Vertrauen groß. „Ich bin unseren Eltern heute noch dankbar, dass sie uns das mitgegeben haben“, sagt Margot Stich. „Und wir wollen das gleiche für unsere Kinder, Enkel und Urenkel tun. Sie sollen wissen, dass die Familie im Leben der Anker ist.“
Mittlerweile sind es auch Schwiegersöhne, -töchter und -enkel, die Zeit in der Dornröschenstraße verbringen wollen. Einer davon ist Moritz Goll. Ihn hat die WG seiner Schwieger-Großeltern so fasziniert, dass er mit einem Freund einen Film über sie gedreht hat. Die Familie hat einen Kinosaal für die Premiere gemietet, auch viele Freunde waren eingeladen. Natürlich wird im Saal viel gelacht, während auf der Leinwand der Film über Bayerns erfolgreichste WG läuft. Am Ende fragt Goll die vier, was sie sich für die Zukunft wünschen. Erwin Stich lächelt sein warmes Lächeln in die Kamera und sagt: „Dass alles so bleibt, wie es ist.“ So wie es immer war.