Die vergessenen Kinder: Wie eine Münchnerin hilft

von Redaktion

VON FREDERIC RIST

München – Zwischen den Zelten und Hütten aus Wellblech toben Kinder umher. Sie spielen Fangen. Im Hintergrund türmt sich der Müll. Es ist der Alltag, auf den Jacqueline Flory seit Jahren in der Bekaa-Ebene im Libanon trifft. „Die Zustände sind katastrophal“, sagt sie. „Die Kinder wachsen ohne Schulbildung auf und haben keine Perspektive.“

Seit 2011 tobt der Bürgerkrieg in Syrien. Machthaber Baschar al-Assad konnte sich halten – mithilfe Russlands und des Iran. Das Land ist zersplittert. Große Teile kontrolliert Assad, im Süden und einem kleinen Teil im Nordosten haben andere Gruppen das Sagen (Grafik). Syrien ist zum Land der Stellvertreterkriege geworden: zwischen Iran und Saudi-Arabien, Russland und den USA, der Türkei und den Kurden.

Eine halbe Million Tote hat der Bürgerkrieg schon gefordert, zwölf Millionen Syrer sind laut der UN-Flüchtlingskommission geflohen – die Hälfte innerhalb Syriens, der Rest ins Ausland. Deutschland hat bisher knapp eine Million Syrer aufgenommen. Viele schaffen es aber nur in die Nachbarländer.

Im Libanon sind Schätzungen zufolge 1,5 bis zwei Millionen Syrer. Wer kein Geld hat für die Stadt, den verschlägt es in die Bekaa-Ebene. An die 2100 illegale Camps gibt es in der Obst- und Gemüsekammer des Libanon. Viele stehen direkt an den Feldern – meist ohne Zugang zu Trinkwasser und Nahrung. Die libanesische Regierung schaut weg. Hunderttausende Kinder wachsen als Analphabeten auf und arbeiten als Erntehelfer, da erwachsene Flüchtlinge nicht arbeiten dürfen.

Jacqueline Flory kennt die Missstände nur zu gut. Im Jahr 2015, dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, sammelte die 46-jährige Münchnerin an der Schule ihrer Kinder 10 000 Euro Spenden. 2016 gründete Flory, die als Übersetzerin Arabisch spricht, den Verein „Zeltschule“ und reiste mit ihren damals fünf und sieben Jahre alten Kindern in den Libanon, um eine erste Zeltschule zu errichten.

28 Zeltschulen hat Flory bisher im Libanon errichtet, 21 weitere in Syrien, wo die Not der Kinder auch groß ist. 13 500 Kinder werden jeden Tag in Schichten von morgens bis abends von syrischen Lehrern unterrichtet. „Wir wollen den Kindern die Möglichkeit geben, einfach Kinder zu sein“, sagt sie. Der Verein transportiert zudem Trinkwasser und Nahrung in die Camps, versorgt 65 000 Menschen – abgestimmt auf die Bedürfnisse. „Wenn eine Familie zwei Babys hat, notiere ich für die Lieferanten, dass sie bei jeder Lieferung Windeln und Babynahrung erhalten sollen“, sagt Flory.

Die Koordination macht sie von Deutschland aus. Bis zu 200 Telefonate sind das jede Woche: Lehrerkonferenzen, Elterngespräche, Bestellungen, Verhandlungen mit den Behörden und Landbesitzern der Grundstücke, auf denen die Flüchtlingscamps stehen. „Die Verteilung der Hilfsgüter übernehmen die Geflüchteten selbst“, erklärt Flory.

Gleiches gilt für den Schulbau, den Unterricht und die Instandhaltung der Zelte. In den Camps gibt es Handwerker, Lehrer, Ärzte. Mindestens einmal im Monat versucht Flory, die Schulen zu besuchen. Dort erwarten sie strahlende Kinderaugen und Familien, die wieder Hoffnung schöpfen. „Die Kinder lieben es, zur Schule zu gehen, denn nur dort erleben sie Normalität in ihrem sonst tristen Leben“, erzählt Flory. Wo sie hinkomme, spüre sie Dankbarkeit. „Oft werde ich von Familien angefleht, auch in ihrem Lager eine Schule zu errichten.“ Das würde sie gerne – aber nicht jedes Lager ist dafür geeignet: kein Platz, zu schlechte Transportwege. Bevor in einem Lager eine Schule entsteht, spricht Flory mit jeder Familie, um sie zum Teil des Projekts zu machen.

Die gemeinnützige Initiative ist großteils durch Spenden finanziert. Fünf bis sechs Millionen Euro pro Jahr sind nötig. Flory erhält Unterstützung von Bürgern, Künstlern, Politikern. Sogar Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel lobte die Münchnerin. 2020 war Flory in der TV-Talkshow von Markus Lanz zu Gast. In nur 15 Minuten flossen Spenden in einer Höhe, für die sie sonst drei Monate lang sammelt.

Doch der Verein hat es im Libanon immer schwerer. Das tief zerrüttete Land steht politisch, wirtschaftlich und sozial am Abgrund. Viele machen die syrischen Flüchtlinge für die Situation verantwortlich. Sie bekomme diese Anfeindungen bei ihren Besuchen immer häufiger zu spüren, berichtet Flory. Hinzu kommt der Konflikt der Hisbollah mit Israel (siehe auch Interview).

Wie die Deutsche Welle unter Verweis auf Menschenrechtsorganisationen berichtete, führt die Armee gezielt Razzien durch, kontrolliert die Papiere nicht-libanesischer Staatsbürger – und schiebt Syrer ohne legalen Aufenthaltsstatus ab. „Hinzu kommt, dass hunderttausende Kinder keine Staatsangehörigkeit besitzen. Einige wurden in den Lagern geboren und nie offiziell registriert, andere haben abgelaufene Papiere“, sagt Flory. Für die Kinder bedeute das: ohne Pass keine Rückkehr nach Syrien – und auch keine Zukunft im Libanon. „Das ist eine frustrierende Situation. Selbst wenn die Kinder erfolgreich die Schule abschließen, bleiben ihnen kaum Möglichkeiten.“

Flory will sich aber nicht unterkriegen lassen – und heuer die 50. Zeltschule eröffnen. „Es muss unser Ziel sein“, sagt sie, „Menschen nicht aus ihrer Region und Kultur zu reißen und sie weit weg von ihrem Zuhause zu einem Neuanfang zu zwingen.“ ’

INFOS UND SPENDEN

unter www.zeltschule.org. Dort kann man direkt spenden – oder per Banküberweisung an: Zeltschule e.V. IBAN: DE44 7015 0000 1004 3195 29 BIC: SSKMDEMMXXX

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