München – Der junge Mann mit den pinken Katzenohren redet nicht lange um den heißen Brei. „Hast du ADHS?“, fragt er gleich zu Beginn des Videoclips in die Kamera. Dann geht der Test los: Ein Raster mit drei verschiedenfarbigen Punkten wird eingeblendet. Der TikToker, der sich „Mexify“ nennt, fordert seinen Zuschauer auf, sich auf den blinkenden Punkt in der Mitte zu konzentrieren. „Du wirst merken, dass die gelben Punkte am Rand langsam verschwinden“, erklärt er. Klappt nicht? Dann ist es das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, kurz ADHS. So simpel bekommt man über Soziale Medien eine Diagnose – und das in nur 44 Sekunden.
Videos wie solche gibt es auf TikTok in Massen. Und sie sind seit Monaten im Trend: Nicht nur ADHS, auch Autismus, Zwangsstörungen, Depressionen und toxische Beziehungen werden getestet. Die Clips werden oft von Betroffenen gedreht, die ihre Erfahrungen teilen wollen – aber auch von selbst ernannten Psychologie-Experten, deren Qualifikation meist fraglich ist. „Wenn du immer wieder dasselbe Lied hörst, viel Kaffee trinkst, ungeduldig bist und ständig den Job oder die Beziehung wechselst, könntest du ADHS haben“, behauptet zum Beispiel eine Frau auf TikTok.
Wenn ein Video einen zum Autisten erklärt
Die Psychotests sind simpel und spielerisch. Zuschauer sollen etwa ihre Hände ausstrecken und je einen Finger einknicken, wenn eine Aussage auf sie zutrifft: Zappelst du oft in der Öffentlichkeit? Kannst du dich nicht länger als 30 Minuten auf eine Sache konzentrieren? Hast du mal versucht, einen Witz zu machen – aber andere haben ihn ernst genommen? Nach zehn solcher Aussagen sollten nicht mehr als vier Finger eingeknickt sein – sonst lautet die Diagnose: Autismus.
Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) ist alarmiert: „Kurze und unvollständige Informationen zu Symptomen, Ursachen und Reaktionen können hilfreich sein – und ebenso großen Schaden anrichten“, warnt Präsidentin Thordis Bethlehem auf der Homepage des Verbands. Hilfesuchenden sei oft nicht klar, dass sie eine professionelle Einzelberatung bräuchten, es sich bei TikTok-Videos aber um „Informationen aus der Gießkanne“ handle. Die Konsequenzen „sind häufig unangemessene Sorgen und Ängste, unpassende Schlussfolgerungen und Zuschreibungen bis hin zu selbsterfüllenden Prophezeiungen.“ Bedeutet: Man redet sich etwas so lange ein und verhält sich auch entsprechend, bis man es wirklich hat. Der BDP rät, Quellen zu Gesundheitsinformationen doppelt und dreifach zu prüfen.
Einige Tests wirken auf den ersten Blick professionell. Nicht selten tragen TikToker sogar einen weißen Kittel. Etwa eine junge Frau, die sich „ADHS-Ärztin“ nennt. In ihren Videos sitzt sie vor einem knalligen Hintergrund mit vielen Bildern, Lichterketten und Kuscheltieren. Sie will die Konzentrationsfähigkeit ihrer Zuschauer testen: In einem Video fordert sie dazu auf, ihr Top anzuschauen und andere Dinge, die sich durch den Raum bewegen, zu ignorieren. „Wenn du bei dir einen Verdacht auf ADHS hast, geh zu einem richtigen Arzt“, erinnert sie in manchen Clips.
„Psychische Störungen sind in Sozialen Medien ein Riesenthema geworden – weil nicht schwer verständliche Fachleute darüber sprechen, sondern oft Influencer, die ihre eigenen Erfahrungen teilen“, sagt Sabine Maur von der Bundespsychotherapeutenkammer. Generell würden sich junge Leute heutzutage mehr mit ihrer psychischen Gesundheit beschäftigen. „Störungen und Erkrankungen werden nicht mehr so stigmatisiert wie in früheren Generationen.“ Heute würde man sich eher trauen, öffentlich über Probleme zu reden. „Das ist an sich eine positive Entwicklung – aber sie hat eine Kehrseite“, sagt Maur. Die Inhalte bei TikTok ließen viele Menschen glauben, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, obwohl sie vielleicht nur mit „normalen Alltagsbelastungen“ zu kämpfen haben. „Beispiel Schusseligkeit: Das betrifft etliche, und die meisten haben diese Eigenschaft nie infrage gestellt. Aber bei TikTok ist das plötzlich ein Hinweis für ADHS.“
Der trügerische Charme solcher Selbstdiagnosen: Man bekommt eine Erklärung für Macken. „Das macht es leichter, sich aus der Verantwortung zu ziehen und zu sagen: Dafür kann ich nichts, ich bin krank“, sagt Maur. Im günstigsten Fall würden Selbstdiagnosen dazu führen, sich professionelle Hilfe zu suchen. Im schlimmsten Fall aber, eklärt Maur, beginnen Hilfesuchende mit einer Selbstmedikation oder fallen auf unseriöse Angebote mit Heilversprechen rein: etwa einen einwöchigen Achtsamkeitskurs, der gesund machen soll – und viel Geld kostet.
Psychische Störungen werden gern kopiert
„Lange galten Diagnosen von psychischen Erkrankungen als etwas Negatives“, sagt die Therapeutin. „Heute können sie sogar ein Mittel der Selbstinszenierung sein: Dann nennt sich die Influencerin nicht mehr ,Celina aus München’ sondern ,Die Borderlinerin’.“ Grundsätzlich könne es zwar anderen helfen, wenn Erfahrungen online geteilt werden. „Ich frage mich aber, ob jungen Leuten bewusst ist, wie sensibel diese Informationen sind – und dass man sie auch zum Beispiel mit potenziellen Arbeitgebern teilt.“
Ein gefährliches Phänomen sei zudem, dass Jugendliche Störungen kopieren. „Wir kennen das eigentlich von den Stationen in Psychiatrien, wo sich Patienten selbstverletzendes Verhalten bei anderen abschauen.“ Aber mittlerweile funktioniere das auch im Internet. „Eine Zeit lang waren Inhalte über Tourette besonders beliebt – das hat dazu geführt, dass immer mehr Jugendliche mit Tics in Tourette-Ambulanzen gelandet sind. Die meisten haben nicht wirklich Tourette, sondern haben sich über TikTok angesteckt.“
Eltern empfiehlt Maur, selbst mal in die Welt von TikTok einzutauchen, um zu verstehen, was dort vor sich geht. „Ganz wichtig: Mit den Kindern offen über ihre Selbstdiagnosen sprechen, ohne sie abzuwerten.“ Bestehe wirklich ein ernsthafter Verdacht, sei professionelle Hilfe ratsam – und wenn kurzfristig kein Therapieplatz verfügbar ist, können auch Gespräche mit dem Kinderarzt oder einer Beratungsstelle helfen.