Eine Reise über die besetzte Krim

von Redaktion

VON ULF MAUDER

Sewastopol – An der Uferpromenade von Sewastopol sind die Gehwege stellenweise aufgerissen wie nach einem Drohneneinschlag. Aber Passanten betonen, die Schäden stammten nur von einem schweren Wintersturm – und nicht von ukrainischen Angriffen. „Nicht fotografieren, die Bucht“, raunzt eine ältere Frau. Zu sehen sind Flugabwehrsysteme auf alten Festungsanlagen der in den vergangenen Jahrhunderten oft umkämpften Hafenstadt. „Wir sind wachsam hier gegen Saboteure und Spione.“

Immer wieder gibt es Angriffe aus der Ukraine, die ihre vor zehn Jahren von Russland annektierte Halbinsel zurückerobern will. Im Blickpunkt steht dabei besonders auch im Osten der Krim die 19 Kilometer lange Kertsch-Brücke (siehe Rand), über die Züge rollen – auch bis nach Sewastopol.

In der Bucht von Sewastopol, in der einige Kriegsschiffe ankern, herrscht gespannte Ruhe. Barrieren schwimmen auf der Oberfläche. Sie sollen Angriffe von Überwasserdrohnen abwehren, um die hier seit 240 Jahren beheimatete russische Schwarzmeerflotte zu schützen. Moskau hatte zwar die Krim 1954 an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik übertragen, behielt aber Einfluss.

Als Russland aber vor zehn Jahren nach dem Sturz des moskaufreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch in Kiew seinen Einfluss hier zu verlieren drohte, zog Kremlchef Wladimir Putin blitzartig in knapp einem Monat die Annexion durch. Mindestens sechs Menschen starben. Am 18. März 2014 besiegelte er die Eingliederung der Krim mit mehr als zwei Millionen Einwohnern in die Russische Föderation. Kaum ein Staat erkennt das an.

In Sewastopol sitzt der Schock tief, nachdem die Ukraine in ihrem Kampf gegen Putins Angriffskrieg mehrere russische Kriegsschiffe versenkt hat. „Die häufigen Luftalarme setzen uns zu, ich kenne schon mehrere Schutzbunker von innen“, erzählt die Mittvierzigerin Irina. Sie steht auf dem prachtvollen Nachimow-Prospekt am Hotel Sewastopol. Von dort ist auch das durch einen ukrainischen Angriff zerstörte Hauptquartier der Schwarzmeerflotte zu sehen. Das Dach ist zertrümmert, das Gemäuer eingerissen. Der Schaden ist massiv – aber kein Vergleich zu den todbringenden Zerstörungen, mit denen Russland seit Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 weite Teile der Ukraine überzieht.

Wer mit Passanten spricht, findet fast durchweg stoisch kämpferische Bewohner, obwohl selbst Behörden einräumen, dass es „Saboteure“ gebe, die den ukrainischen Kampf für eine Rückeroberung der Halbinsel unterstützen. Offen sprechen Menschen in Sewastopol über ihre Trauer um die Gefallenen; viele bedauern die zerrissenen Bande zu Familienangehörigen in der Ukraine. Trotzdem überwiegt bei vielen der Stolz, Teil Russlands, einer Atommacht, zu sein. „Wladimir Putin hat uns gerettet“, sagt ein Rentner an der ewigen Flamme, die an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg erinnert. Anders als früher seien die Renten höher, sagt der Senior – und stabil.

Von Sewastopol aus geht es durch Weinanbaugebiete entlang der Küste in den subtropischen Kurort Jalta. Von der Landstraße aus sind schmucke Sanatorien zu sehen, Hotels, Villen, Luxusappartements. Während viele Ukrainer, auch die Familie von Präsident Wolodymyr Selenskyj, ihren Besitz verloren haben, breiten sich reiche Russen aus. Die Immobilienpreise sind seit 2014 explodiert.

An der Uferpromenade, wo neben Palmen ein riesiges Lenin-Denkmal steht, schlendern Touristen. „Wir fühlen uns wieder zu Hause, seit Russland uns aufgenommen hat“, sagt die Deutsch- und Englischlehrerin Natalja Fomina. Auch in Jalta sagen viele Menschen auf der Straße, dass sie auf ein Ende des Krieges hoffen. Ihre Klagen drehen sich aber besonders um die strengen russischen Gesetze und die Bürokratie, vieles härter als unter ukrainischer Führung. Aber offen reden manche lieber nicht.

Ein älterer Mann schimpft, es sei gefährlich, in der Öffentlichkeit eine andere Meinung als die des Kreml zu vertreten. Jobverlust oder Haft könnten drohen. Aber obwohl er wie viele noch seinen ukrainischen Pass hat und doch gehen könnte, will er bleiben, sich anpassen. Ob er die ukrainische Führung lieber wieder zurück hätte? „Auf gar keinen Fall“, platzt es aus ihm heraus. Damals habe das Chaos regiert. Der Mann lobt etwa, dass es die neue Tawrida-Autobahn gibt und die Fahrtzeiten kürzer geworden sind.

Gesteuert wird die Krim von Simferopol aus. Die Hauptstadt liegt von Jalta mit dem Auto etwa anderthalb Stunden entfernt. An den blauen Stadtbussen am Bahnhof erinnert Werbung an den 10. Jahrestag der Einverleibung der Krim durch Russland. Ein junges russisches Paar erzählt glücklich, dass heute viel mehr getan werde für den öffentlichen Raum – auch auf den Kinderspielplätzen in den Wohngebieten. „Schauen Sie sich um, es ist sauber und schön. Aber alles ist sehr teuer geworden“, sagt der Mann.

Das Leben in der Stadt pulsiert, Jugendliche tanzen in der Fußgängerzone mit den modernen Cafés, Bars und Restaurants. Ein Denkmal am Boulevard zeigt einen Soldaten in Kampfmontur, dem ein Mädchen Blumen schenkt – es erinnert daran, wie Putin die Annexion auch militärisch durchdrückte.

Tausende Menschen leisteten damals Widerstand, wie sich die Krim-Tatarin Tamila Taschewa in Kiew erinnert. „Ukrainer und Krim-Tataren drückten ihren Protest gegen die Besatzer aus, organisierten Märsche und Proteste, brachten ihr Leben in Gefahr“, sagt die ständige Vertreterin des ukrainischen Präsidenten in der Autonomen Republik. Es habe Festnahmen und Entführungen gegeben. Zahlreiche Krim-Tataren gelten bis heute als vermisst. Zehn Jahre Annexion seien ein Jahrzehnt mit politischer Verfolgung, mehr als 200 politische Gefangene gebe es heute auf der Krim. Etwa 70 000 Menschen hätten die Halbinsel seither verlassen.

Moskaus Statthalter Sergej Aksjonow, der offiziell den Namen Republikchef trägt und von Kiew als Hochverräter gesucht wird, zeigt sich in seinem Regierungssitz im Zentrum zufrieden. Das Leben auf der Krim laufe normal. „Die Sorgen der Menschen sind wie überall gleich, da geht es um Löhne, Renten, Einkommen eben, und um Preise für Lebensmittel und Medikamente“, sagt der 51-Jährige. Zwar könne es wegen der Sicherheitslage keine großen Feiern zum 10. Jahrestag geben. Grund zum Feiern gebe es trotzdem.

Gut 27,5 Stunden dauert die Zugfahrt im „Grand Service Express“ nach Moskau. Vom Fenster aus sind marode Industrieanlagen zu sehen, verlassene Häuser und verfallene Stallungen in fast menschenleeren Siedlungen. Kaum Militär. Auf einem Eisenbahnfriedhof rosten dutzende Zugwaggons in ausgeblichenen blau-gelben Staatsfarben vor sich hin. Und dann kommt sie, die Krim-Brücke, die von Kertsch zum russischen Kernland führt. 2022 und 2023 erlitt sie bei Angriffen schwere Schäden. Immer wieder wird der Verkehr gestoppt bei Luftalarm. Diesmal bleibt alles ruhig. Der Zug kommt am nächsten Tag in Moskau an – auf die Minute pünktlich.

Artikel 2 von 3