Wie KI hilft, Darmkrebs zu verhindern

von Redaktion

VON ANDRES BEEZ

Weilheim – Franz Josef Omlor (71) ist ein gewissenhafter Mensch, Disziplin liegt dem pensionierten Berufssoldaten im Blut. Alle fünf Jahre geht der Weilheimer zur Darmspiegelung, die letzte hat er erst kürzlich erledigt und auch die geschmacklich eher bescheidene Trinklösung zur vorherigen Darmreinigung klaglos geschluckt: „Die Untersuchung selbst ist halb so wild wie viele Menschen glauben, man schläft ja und bekommt gar nichts davon mit. Nach der sanften Vollnarkose ist man auch schnell wieder fit“, erzählt er.

Bei aller Routine erlebte Omlor diesmal eine Premiere: Erstmals ließ sich der 71-Jährige mit Unterstützung von Künstlicher Intelligenz (KI) durchchecken. „KI hilft uns dabei, auch kleinste Krebsvorstufen zu erkennen, die dem menschlichen Auge womöglich entgehen könnten“, erklärt Dr. Jochen Dresel, Chefarzt des Gastroenterologischen Zentrums im Krankenhaus Weilheim.

Seit Anfang des Jahres setzen der erfahrene Darmkrebs-Spezialist und sein Team die neue Technologie ein – auch bei gesetzlich versicherten Patienten. Das Weilheimer Krankenhaus gehört zu den Innovationstreibern in der Darmkrebs-Früherkennung. Das Gerät – finanziert von der Otto-Hellmeier-Stiftung in Raisting – verfügt über eine spezielle KI-Software. Sie gleicht während der Untersuchung die Live-Aufnahmen der Darmschleimhaut permanent mit einer digitalen Datenbank ab. „Diese Datenbank ist mit mehr als 50 000 Bildern verdächtiger Polypen gespeist. Sobald die KI eine Übereinstimmung erkennt, schlägt sie Alarm“, erklärt Chefarzt Jochen Dresel. „Dann kann der Arzt sich die verdächtige Stelle noch mal genau anschauen und mit großer Wahrscheinlichkeit entfernen.“ In jedem Fall landet das entfernte Gewebe später in der Pathologie, um es dort genauer zu analysieren. Nach dem Ergebnis der pathologischen Untersuchung richtet sich dann auch die empfohlene Zeitspanne bis zum nächsten Vorsorgetermin.

Grundsätzlich gilt die Darmspiegelung in der Krebsvorsorge als Erfolgsgeschichte. 2002 wurde sie als sogenanntes Screening eingeführt. In der Praxis bedeutet es, dass Männer ab 50 Jahren und Frauen ab 55 (wegen ihres etwas geringeren Risikopotenzials) von der Krankenkasse per Brief zu dieser freiwilligen und kostenlosen Vorsorgeuntersuchung eingeladen werden.

Dabei inspizieren die Ärzte den Darm mit dem Endoskop. Das ist ein dünner, biegsamer Schlauch, voll mit modernster Technik. In dessen Inneren kann der Arzt eine Optik (eine Art Minikamera) und filigrane Instrumente wie kleine Zangen und Schlingen zum Einsatzort transportieren, um Drüsenpolypen und vor allem sogenannte Adenome zu entfernen. Diese zunächst gutartigen Wucherungen der Darmschleimhaut können im Laufe der Jahre zu Darmkrebs entarten. Werden sie rechtzeitig entfernt, ist die Gefahr gebannt.

Dieses Glück hatte auch Franz Josef Omlor. Mit Unterstützung der KI-Datenbank hatte Darmkrebs-Spezialist Dresel ein noch sehr kleines Adenom entdeckt und eliminiert. „Ich bin erleichtert, auch darüber, dass mir neben der Erfahrung meines Arztes die KI-Software zugutekam. Bei dieser Technik hatte ich von Anfang an ein gutes Gefühl“, sagt Omlor. „Es hat sich bestätigt, dass sie ein zusätzlicher Sicherheitsfaktor sein kann. Das empfinde ich als beruhigend – auch mit Blick auf meine weiteren Darmspiegelungen.“

Auch andere Patienten sollen künftig verstärkt von dem Hightech-Helfer profitieren. „Studien zeigen, dass die KI die Erkennungsrate von Krebsvorstufen noch mal um 20 Prozent steigern kann“, sagt Dresel. Er sieht darin ein weiteres starkes Argument, um endlich mehr Menschen für die Vorsorgemöglichkeit zu gewinnen. Denn trotz der großen Erfolge – seit Einführung des Screenings konnten etwa 250 000 Menschen vor Darmkrebs geschützt werden – nehmen derzeit nur etwa 20 Prozent der über 50-Jährigen die Chance wahr. „Es wäre schön, wenn diese Quote und damit die Überlebensrate deutlich steigen würde.“ Denn Darmkrebs ist inzwischen zu einer Volkskrankheit geworden. Allein in Deutschland leben laut Bayerischer Krebsgesellschaft derzeit 520 700 Menschen mit der Diagnose, und jedes Jahr kommen weitere 60 000 dazu. Damit macht Darmkrebs etwa zehn Prozent aller Tumorleiden aus. Mehr als 22 000 Patienten verlieren jedes Jahr den Kampf gegen die Erkrankung.

Ein besonders großer Risikofaktor ist die genetische Veranlagung. Das Ausmaß der Bedrohung kristallisierte sich unter anderem in einer großen Studie heraus: Wenn Verwandte ersten Grades – also Eltern oder Geschwister – bereits an einem kolorektalen Karzinom erkrankt sind, ist das persönliche Risiko um mehr als das Vierfache erhöht.

Deshalb drängt auch die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) auf eine zügige Ausweitung der Darmkrebsvorsorge auf Menschen jüngeren Alters. „Rund zehn Prozent aller Darmkrebsfälle werden vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziert – vielfach ist die Erkrankung mangels regelhafter Früherkennungsuntersuchungen dann schon weit fortgeschritten“, berichtet die medizinische Fachgesellschaft. „Für Menschen, bei denen bereits Darmkrebsfälle in der Familie bekannt sind, wären regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen bereits ab dem 30. Lebensjahr deshalb vielfach lebensrettend.“

Auch der Weilheimer Chefarzt Dresel hofft, dass solche Appelle mehr Gehör finden. „Am Ende haben wir es alle selbst in der Hand, die großen Chancen zu nutzen, die die moderne Darmkrebsvorsorge auch mithilfe der Künstlichen Intelligenz bietet. Ich kann nur jedem raten, sich ein Herz zu fassen. Es ist schnell passiert und weitaus weniger unangenehm, als die meisten sich das vorstellen.“

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