München – Ein Blick in einen Getränkemarkt sieht heute anders aus als in den 80er-Jahren. Wo früher Bier, Wasser, Saft und Cola standen, türmt sich heute eine fast unüberschaubare Vielzahl bunter Limonaden, Brausen und Erfrischungsgetränke. Fritzlimo, Club Mate, Fassbrause, Frohlunder, Lemonaid, Proviant, Now … Viele Limonaden wollen weit mehr sein als ein Durstlöscher – ein Statement für einen bewussten Lebensstil. Und sie zielen nicht mehr nur auf Jugendliche, sondern auf Erwachsene. Hippe Limos scheinen besonders in Großstädten angesagt. Doch seinen Ursprung hatte der Trend in der fränkischen Provinz. Vor 30 Jahren meldete der Bierbraumeister Dieter Leipold aus dem 3000-Einwohner-Ort Ostheim vor der Rhön das Patent für eine neue Limo an: Bionade.
„Was Bionade damals auszeichnete, war, dass sie gar nicht als Limonade wahrgenommen wurde“, sagt Psychologe Jens Lönneker vom Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold Salon. Cola und Fanta seien schon als zu süß verpönt gewesen. Doch bei Bionade fiel die Scheu: natürliche Herstellung, weniger süß, kleinere Flaschen. „Das war aus Sicht vieler Konsument eine ganz neue Getränkekategorie“, sagt Lönneker.
Braumeister Leipold tüftelte seit den 1960er-Jahren an einem neuen Getränk. Doch in den 90ern bekam die Idee neuen Schwung. Der Familienbrauerei Peter, an der Leipold beteiligt war, ging es schlecht. Der Bierkonsum ließ nach – ein Trend, der bis heute anhält. Für Bionade nutzte Leipold sein Bierbrau-Wissen: Bionade wird ebenfalls mit Gerstenmalz gebraut. Nur, dass dabei kein Alkohol entsteht. Nach Vorbild von Bienen wird durch Fermentation aus Zucker Gluconsäure. Auch die Flasche lehnt sich an die Form einer klassischen Bierflasche an.
Die Geschichte von Bionade hat etwas Märchenhaftes: Ein Familienunternehmen kämpft ums Überleben. Da kommt die rettende Idee. Doch der große Durchbruch bleibt zunächst aus. Dann gewinnt Leipolds Ehefrau im Lotto und steckt das Geld in die Firma. Es folgen ein neues Design, der erste Getränkegroßhandel – und Bionade wird zum Kult in den Szene-Clubs in ganz Deutschland.
Die Getränkeidee sichert heute auch das Einkommen von Landwirten in der Gegend. Viele Felder sind zu Holunderfeldern geworden. Denn Holunder ist laut Unternehmen die beliebteste Sorte. Andere Sorten, die wohl vor 40 Jahren noch nicht für Limos denkbar waren, sind Litschi, Kräuter, Streuobst und Zitrone-Bergamotte.
Inzwischen ist Bionade nicht mehr eigenständig. Seit 2018 ist die Marke Teil des hessischen Hassia-Konzerns. Trotz Achterbahnfahrten mit Nachfrageeinbußen scheint Bionade weiter erfolgreich: 2022 erzielte die Marke nach eigenen Angaben ein Umsatzplus von sechs Prozent.
„Bionade war eine völlig neue Art von Erfrischungsgetränk. Mit dem niedrigen Kaloriengehalt lag sie sehr vor dem Zeitgeist“, sagt Detlef Groß, Geschäftsführer der Wirtschaftsvereinigung Alkoholfreie Getränke (wafg). Andere Hersteller zogen nach, Bionade ging gerichtlich gegen optisch ähnliche Produkte vor. Doch auch andere Limonaden wurden zum Szene-Getränk. So brachte 2010 die Kölner Brauerei Gaffel eine Fassbrause auf den Markt: Club-Mate wurde zum Konkurrenten für Cola.
Manche Hersteller setzten beim Marketing noch einen drauf: noch ethischer, nicht nur bio, sondern fair produziert und nachhaltig. Vegan sowieso. Sozusagen trinken für eine bessere Welt. Auch Bionade engagiert sich für Biodiversität und Umweltbildung und bezieht schon seit Jahren CO2-neutralen Strom. Fritz-Kola kam mit einer „Trink aus Glas“-Kampagne gegen Plastikmüll um die Ecke. Einige Hersteller wie Lemonaid und das Premium-Kollektiv schlossen sich 2010 zu einem „Verband korrekter Getränkehersteller“ zusammen – von dem allerdings nichts mehr zu hören ist.
Zielgruppe der „guten Limos“ sind unter anderem die sogenannten „Lohas“ (Lifestyle of Health and Sustainability). Also Menschen, die gesund und nachhaltig leben wollen. Oft eher abwertend gemeint wird seit Jahren der Begriff „Bionade-Biedermeier“ für gut situierte Großstädter verwendet, die sich durch nachhaltigen Konsum politisch positionieren. Laut einer Yougov-Umfrage liegt der Anteil von Vegetariern und Veganern bei Fritz-Kola-Kunden um 50 Prozent höher als in der Gesamtbevölkerung.
Dabei dürfte fraglich sein, wie gesund die Szenelimos wirklich sind. Zwar ist teils weniger Zucker enthalten als in Softdrinks der 80er-Jahre. Manche der Kultgetränke sind nicht mal offiziell eine Limo. Denn für eine Limo muss der Zuckergehalt eigentlich mindestens sieben Prozent betragen. Doch auch die „neuen“ Getränke enthalten mehrere Gramm Zucker.
Das Marketing macht den Unterschied, meint Psychologe Lönneker. Er vergleicht es mit einem Ablasshandel. „Mit den Getränken gehört man wieder zu den Guten und kann trotzdem das leckere Zeug trinken, das man vorher als ungesund abgelehnt hatte“, sagt Lönneker. Ähnliche sogenannte Rationalisierungen sieht er bei Fleischalternativen.
Laut der wafg gibt es keine genaue Zahl, wie viele Produkte als Limos und Ähnliches in Deutschland angeboten werden. „Wir haben eine hohe Anzahl an Produktneueinführungen, aber nur wenige können sich am Markt behaupten“, sagt Geschäftsführer Groß. Der Aufwand, am Markt durchzustarten, sei groß. Der Schlüssel sei ein gutes Produkt, aber man müsse sich auch mit Lebensmittel- und Verpackungsrecht auskennen. Zudem sei der Limonaden-Markt kein Nischenmarkt. Neben internationalen Konzernen mischten Mineralbrunnen, Brauereien und regionale Hersteller mit. „Start-ups mit Garagengründer-Mentalität haben es daher oft schwer“, sagt Groß.
Zu Erfrischungsgetränken zählen neben Limos auch Trendprodukte wie Eistees und Energydrinks. Auch Wasser mit Fruchtzusätzen – „Near-Water“-Produkte genannt – füllen die Regale. Zwar sind laut der wafg besonders kalorienreduzierte Getränke im Trend, aber klassische Colas und Limos machten den Hauptteil am Markt aus. Etwa 80 Liter davon trinken Deutsche im Schnitt pro Kopf und Jahr. Hinzu kommen je etwa sechs Liter Schorlen, Wasser mit Aromen, Energydrinks und Brausen sowie zehn Liter Fruchtsaftgetränke.
Psychologe Lönneker sieht Wellen am Markt, die sieben bis zehn Jahre dauern: Mal gehe der Trend zu Verzicht und Wasser, mal wieder zu Völlerei und aromatisierten, süßen Getränken. „Wenn das Leben mühsam scheint, wollen sich viele Menschen bei den Getränken etwas gönnen“, sagt Lönneker. Auch gerade sieht er angesichts von gesellschaftlichen Herausforderungen wie Kriegen, Klimawandel und politischen Unruhen einen Trend, sich das Leben zu versüßen. Natürlich mit gutem Gewissen.
Lottogewinn
rettet Brauerei
Marketing schielt auf die „Lohas“
Krisenzeiten gut
für süße Getränke