Die Auferstehung des Anton Wagner

von Redaktion

VON DOMINIK STALLEIN

Geretsried – Der Gedanke daran, wie wenig Zeit ihm noch geblieben wäre, verändert seinen Gesichtsausdruck. Das leichte Grinsen weicht einem stummen Verharren. Statt ihm antwortet Anton Wagners Frau Sabine. „Lange hätte er nicht mehr gelebt.“ Die Ärzte hatten dem agilen Sportler noch ein halbes Jahr gegeben. 1999 war das. Bis zu einem erlösenden Telefonat mitten in einer Nacht im Mai 2000 musste seine Familie bangen. Außer den engsten Verwandten sollte niemand wissen, dass Anton Wagner zwei neue Organe braucht. Bauchspeicheldrüse und Nieren versagten ihren Dienst.

„Die Organspenden haben mir das Leben gerettet“, sagt Anton Wagner – nachdenklicher, als der sonst so quirlige Steinmetzmeister spricht. Zweimal überlebte der heute 63-Jährige nur wegen einer Operation. Seine Frau Sabine Irro-Wagner sitzt seit neun Jahren im Rollstuhl, nach einem schweren Unfall samt Gehirnblutung. „Wir haben es immer geschafft, doch weiterzumachen“, sagt sie. „Und irgendwie machen wir das Beste daraus.“

Anton Wagner ist Steinbildhauer- und Steinmetzmeister und führt einen eigenen Betrieb. Auf dem Hof der Firma stehen Grabsteine aus Marmor und Granit neben braunen Naturstein-Gedenktafeln. Grabkreuze liegen daneben. Wagner lehnt an einem Grabstein, den Schriftzug hat er schon vor längerer Zeit darauf graviert. Er ist an diesem Tag nicht gut zu Fuß. „Die tun mir weh – kommt von den Immunsuppressiva.“

Die Medikamente muss er seit der Transplantation jeden Tag nehmen. Sie sollen dafür sorgen, dass sein Körper die Organe nicht als Fremdkörper identifiziert und bekämpft. Das ist überlebenswichtig. Wagner weiß das. Unzufrieden ist er trotzdem. „Die Medikamente machen alles kaputt. Ich muss brutal aufpassen. Von dem Beipackzettel wird einem schlecht.“ Heute quälen ihn die Füße. Und seine Haut ist trocken. „Aber ich lebe“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Der drahtige Geretsrieder klingt trotzig. Er lebt, er lacht. „Ich lache doch immer.“ Er grinst, so als wolle er es beweisen.

Anton Wagner war mal ein Spitzenathlet. Bei Leichtathletik-Wettkämpfen rannte er der Konkurrenz davon. Auf dem Fußballplatz pflügte er die Seitenlinie rauf und runter. Wenn er nicht selber kickte, betreute er als Trainer Mannschaften. „Ich habe alles gemacht, ich war ständig auf dem Sportplatz.“ Am Anfang war es ein Hobby. Irgendwann wurde es ein Ventil. Denn in den späten 1990er-Jahren wurde sein Diabetes immer schwerwiegender. Es war die Zeit, als er immer häufiger zu Ärzten musste. Die Mediziner stellten fest, dass die Bauchspeicheldrüse, der Pankreas, ausgetauscht werden muss. Seine Nieren versagten. Wagner – ein junger Meister-Unternehmer, Ende 30, frisch verheiratet und topfit – hörte, dass ihm die Zeit davonläuft. „Sie haben mir deutlich gesagt, dass ich zwei neue Organe brauche – sonst war es das.“ Er musste zur Dialyse. Und hoffen. Wagner rannte gegen die Angst an, machte täglich Sport, stundenlang. „Eine Operation kam nur infrage, wenn der Toni fit genug war“, erinnert sich Ehefrau Sabine. „Er musste den Eingriff ja auch überleben.“ Also rannte ihr Toni. „Natürlich ging es darum, fit zu bleiben. Aber ich bin auch weggerannt vor dem Ganzen. Beim Laufen habe ich nicht daran gedacht“, sagt er.

Der Extremsportler – plötzlich ein Todgeweihter. Großartige andere Lebensfreuden blieben nicht. „Es war eine heftige Zeit.“ Er konnte nicht viel essen und kaum etwas trinken: „Soßen und Suppen waren verboten, ich durfte nur einen Liter Wasser trinken pro Tag, wegen der Dialyse.“ Urlaubsreisen, die er so gerne mit seiner Frau gemacht hatte, waren auch nicht möglich. Er durfte keinen seiner Krankenhaus-Termine verpassen – und es könnte ja jederzeit sein, dass das Telefon klingelt und er sofort zur Transplantation aufbrechen muss.

Das Datum, an dem das passierte, weiß Sabine Irro-Wagner noch genau. In der Nacht auf den 18. Mai 2000, ein Donnerstag, etwa um vier Uhr morgens klingelte das Telefon im Hause Wagner. Es war der erlösende Anruf. Der Steinmetz erinnert sich an das kurze Gespräch: „Wagner, antreten! Wir haben Ihre Organe.“ Mehr musste der Arzt des Münchner Klinikums Großhadern nicht sagen. Anton Wagner war vorbereitet. Der Koffer für den Krankenhaus-Aufenthalt war schon gepackt. Seit Monaten stand er bereit. Die Wagners holten noch Antons Mutter ab, „die wollte dabei sein“, dann fuhren sie in die Klinik.

Die Operation war für die Ärzte und Chirurgen besonders: Gleich zwei Organe auf einmal mussten sie transplantieren. Ein komplizierter Eingriff, einer der ersten seiner Art in der Klinik, erzählt Sabine Irro-Wagner. „Die Organe wurden mit dem Helikopter geliefert“, erinnert sich ihr Mann. Sie stammten von einem Unfallopfer, mehr erfuhr er nicht. Ob er der Familie seines Spenders danken würde? „Ich habe darüber oft nachgedacht. Aber ich habe keine Antwort gefunden.“

Acht Stunden sollte die Operation dauern. Acht lange Stunden, in denen seine Frau die Hände gefaltet hielt. „Ich habe die ganze Zeit gebetet“, erinnert sich Sabine Irro-Wagner. „Ich habe Gott versprochen, dass ich anderen Menschen helfen werde, wenn er jetzt meinem Toni hilft.“ In der Leidenszeit ihres Mannes hat sie zum Glauben gefunden. Sie streicht mit dem Daumen über den Rosenkranz, den sie als Halsschmuck trägt. An dem Schrank neben der Türe im Büro hängt ein Bild der heiligen Maria. „Mir gibt das Kraft“, auch damals im Wartebereich der Großhaderner Klinik.

Nach acht Stunden war der Eingriff beendet. Wagners Wiederauferstehung war damit aber noch nicht vollendet, sie wurde ein langwieriger Prozess. Erst nach über zwei Monaten durfte er nach Hause zurück. Seine Frau besuchte ihn täglich, brachte ihm Essen mit, das seine Mutter gekocht hatte. Sein erstes Mahl nach der Operation war ein Cordon bleu seiner Mutter. „Jeder behauptet, dass die Mutter die beste Köchin ist – bei mir hat es gestimmt“, sagt der Steinmetz.

24 Jahre ist das jetzt her. Themen wie der Organspendeausweis, die Widerspruchslösung oder das Organspenderegister waren damals Neuland. „Da hat keiner drüber geredet. Das war so weit weg“, sagt der Geretsrieder. „Ich glaube, ich habe viel Glück gehabt.“ Glück, dass er trotzdem rechtzeitig Organe bekommen hat.

Das Glück brauchte er noch ein zweites Mal. Denn Anton Wagner musste erneut operiert werden: 2013 erhielt er eine neue Bauchspeicheldrüse, weil die gespendete ausgetauscht werden musste. „Der gespendete Pankreas funktioniert nicht für immer“. Neun oder zehn Jahre lang, sagt Wagner. Eines Tages könnte also die nächste Transplantation anstehen. Aktuell sind seine Werte aber gut. „Die Nieren halten auch noch – nach 24 Jahren!“

Seit seiner Wiederauferstehung hat Anton Wagner viel Lebensqualität zurückbekommen. „Wir gehen gerne essen“, sagt er. Und das Paar ist viel gereist. Auf die Seychellen etwa oder in die Dominikanische Republik. „Wir haben gelernt, dass das Leben ein Geschenk ist“, sagt Sabine Irro-Wagner.

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