Die Millionen-Wunden der Greensill-Pleite

von Redaktion

VON MAX WOCHINGER

München – Das Fiasko verfolgt Markus Böck wie eine Migräne. Bei jeder Investition, bei jeder Entscheidung, die er als Bürgermeister von Oberschleißheim trifft, kommen die Erinnerungen hoch. „Das Thema ist immer wieder im Hinterkopf“, sagt Böck (CSU). Fünf Millionen Euro hat die im Norden Münchens liegende Gemeinde verloren, als die Greensill Bank vor drei Jahren spektakulär pleiteging. Der Crash hinterließ leere Gemeindekassen und einen Bürgermeister in Erklärungsnot.

Böck, 47, ehemaliger Polizist und seit vier Jahren Kommunalpolitiker, spricht nicht gern über die verlorenen Millionen oder die geplatzten Bauprojekte. Zwei Drittel ihrer Ersparnisse hatte die Gemeinde bei der Bremer Privatbank angelegt, jetzt sind die Reserven weg. Als Böck im April 2021 mit der Hiobsbotschaft vor den Finanzausschuss trat, wurde der Neubau des Hallenbads direkt auf Eis gelegt. „Die Planung war schon abgeschlossen, aber wir können es uns nicht mehr leisten“, sagt Böck.

Finanzielle Schwierigkeiten hatte die Gemeinde schon vorher. In Oberschleißheim haben sich nur wenige Unternehmen angesiedelt, was auch an den wenigen Gewerbeflächen liegt. Entsprechend niedrig sind die Steuereinnahmen. Trotzdem muss die Verwaltung drängende Probleme lösen, Kinderbetreuungsplätze schaffen oder Mitarbeiterwohnungen bauen. Das neue Hallenbad mussten sich die Oberschleißheimer nach dem Millionenverlust aus dem Kopf schlagen – und dem alten Bad drohte wegen der hohen Betriebskosten sogar die Schließung.

Wie konnte es so weit kommen? Die ersten Tranchen an Greensill überwies bereits Böcks Vorgänger in den Monaten vor der Kommunalwahl 2020. Im Sommer tätigte die Gemeinde zwei weitere Überweisungen, diesmal unterschrieben vom neuen Bürgermeister Markus Böck. „Das war normales Tagesgeschäft. Die Geldanlage wäre ausgelaufen, der Kämmerer hat mir die Papiere vorgelegt, es waren gute Konditionen und ich habe einfach unterschrieben“, erinnert er sich. Gute Konditionen: Das waren in Zeiten von Strafzinsen für bei Banken geparktes Geld Verlockungen mit einer Null vor dem Komma. Von der bevorstehenden Greensill-Pleite, sagt Böck, sei damals nichts zu spüren gewesen.

Christina Bannier von der Universität Gießen ist da anderer Meinung. Die Wirtschaftswissenschaftlerin sagte in einem Beitrag von ZDF Zoom, Anleger hätten skeptisch sein müssen. „Werden hohe Zinsen geboten“, so Bannier, müsse „ein großes Risiko im Hintergrund stehen.“ Im Rathaus von Oberschleißheim war niemand misstrauisch – weder der Bürgermeister noch der Anlageberater oder der Kämmerer. „Es wäre gut gewesen, wenn er das gesehen hätte“, sagt Böck. Aber er könne nicht erwarten, dass sich der Kämmerer jeden Tag mit Bankenratings beschäftige. Die Gemeinde hat sich inzwischen von ihm getrennt, aus anderen Gründen, wie Böck sagt.

Auch Pöckings Bürgermeister Rainer Schnitzler (Parteilose Wählergruppe Pöcking) denkt oft an das Debakel. Die wohlhabende Gemeinde am Westufer des Starnberger Sees verlor fünf Millionen Euro. Ein großes Loch hat das jedoch nicht gerissen. „Wir mussten damals Rücklagen in Höhe von 79 Millionen Euro anlegen. Nicht mal sieben Prozent waren bei der Greensill Bank“, erzählt der 57-Jährige. Trotzdem traf der Verlust den erfahrenen Gemeindechef schwer. „Das hat mir nicht gutgetan, auch psychisch nicht. Und im selben Jahr habe ich einen Stent bekommen. Es kann sein, dass das mit der Pleite zu tun hatte.“ Das Problem Ende 2020 während der Niedrigzinsphase sei gewesen, dass die Banken das Geld nicht haben wollten. Tagesgeldkonten sollten aufgelöst werden und Negativzinsen belasteten die Gemeindekasse. Der Kämmerer holte dann ein Angebot von der Bremer Bank ein. Und die lockte immerhin mit Mini-Zinsen. „Das war keine spekulative Anlage, sondern ein ganz normales Produkt“, sagt Schnitzler. „Und die Bank hatte ein A-Rating. Wir haben aus damaliger Sicht nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“

Immerhin waren die Spareinlagen breit gestreut. Allein 50 Millionen legte die Verwaltung bei sichereren Genossenschaftsbanken an. Bezüglich Greensill habe der beauftragte Vermittler noch im Oktober 2020 mitgeteilt, das Finanzprodukt sei mit A– bewertet. Dabei sei es bereits mit BB+ eingestuft gewesen, sagt Schnitzler. Die Gemeinde verklagte den Finanzvermittler, ein Gericht wies die Klage ab. Die Verwaltung ist in Berufung gegangen.

Mehr Erfolg hatte Vaterstetten vor Gericht. Die einwohnerstärkste Gemeinde im Kreis Ebersberg hatte 5,5 Millionen Euro auf mehreren Festgeldkonten bei Greensill angelegt. Die Gemeinde führte an, der Anlagevermittler habe zu spät über die Probleme der Bank informiert. Das Landgericht München urteilte, der Anlageberater müsse eine Million Euro an die Gemeinde zurückzahlen. Das Oberlandesgericht bestätigte die Entscheidung. „Das Urteil tut psychologisch gut – vor allem für den Kämmerer und unsere Verwaltung“, sagt der 38-jährige Bürgermeister Leonhard Spitzauer (CSU). Es beweise, dass die Verwaltung „nicht total neben der Spur“ gewesen sei. Ob die Gemeinde das Geld zurückbekommt, bleibt fraglich. Die Beraterfirma hat Insolvenz angemeldet. „Im Moment schreiben sich die Anwälte hin und her.“

Kommunen in ganz Deutschland kämpfen noch immer mit den Greensill-Folgen. Wie das Fachmagazin „Der neue Kämmerer“ (DNK) berichtete, haben viele ihre Anlageberater verklagt. Andernorts laufen Disziplinarverfahren gegen Kommunalpolitiker. In Hessen zum Beispiel ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen möglicher Untreue gegen den Bürgermeister der Stadt Schwalbach am Taunus, die 19 Millionen Euro bei Greensill in den Sand gesetzt hat. Die Ermittlungen wurden inzwischen mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt.

Andere Kommunen versuchen den Verlust durch den Verkauf ihrer Forderungen zu minimieren. Die Stadt Neckarsulm in Baden-Württemberg erklärte, 1,35 Millionen Euro für die Forderung gegen Greensill in Höhe von fünf Millionen bekommen zu haben. Von wem, teilte sie nicht mit. Auch die Stadt Garbsen in Niedersachsen ging diesen Weg. 8,5 Millionen hatte die Kommune bei Greensill versenkt. Wie viel sie dafür noch von wem bekam, darüber sei Stillschweigen vereinbart worden, teilte die Stadt mit.

Vaterstetten hatte rund ein Fünftel der Ersparnisse bei Greensill angelegt, den Rest auf Genossenschafts- und Privatbanken verteilt. „Bei einem Haushalt von 80 Millionen Euro bringen uns fünfeinhalb Millionen nicht um“, sagt Bürgermeister Spitzauer.

Doch in Oberschleißheim zählt jede Million. Dass das Rathaus zwei Drittel der Ersparnisse bei der Bank anlegte, sorgte im Gemeinderat für Ärger. Ein Mitglied der Grünen schimpfte damals, jeder wisse doch, „dass man nicht alle Eier in ein Nest legt“. Darauf angesprochen wirkt Bürgermeister Markus Böck ratlos: „Es war ungut, dass alles bei einer Bank war. Im Nachhinein hätte ich genau nachfragen sollen.“ Inzwischen wurden Anlagerichtlinien erarbeitet, die dem Gemeinderat bald vorgelegt würden, wie Böck sagt. Darin gebe es auch Regeln, wie kommunale Geldanlagen zu streuen sind.

Die Hauptverantwortung für die Misere sehen die Bürgermeister bei der Finanzaufsicht Bafin. „Die Bafin hat damals keine Hinweise gegeben. Als Bundesbehörde hätte sie das aber tun müssen“, sagt Böck. Die Oberschleißheimer erwogen auch eine Klage gegen den Anlageberater – der ebenfalls Insolvenz angemeldet hat. Doch die habe wenig Aussicht auf Erfolg, sagt Böck. „Wir haben andere Voraussetzungen als Vaterstetten.“ Mit dem juristischen Erfolg gegen den Vermittler hat Vaterstetten zumindest einen Teilschuldigen gefunden und konnte so eine Art Schlussstrich ziehen. In Oberschleißheim fehlt dieser bis heute.

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