München – Lange schien es so, als habe die Nato ihren Auftrag bereits erfüllt: Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion war viele Jahre gar nicht klar, gegen wen sich die „North Atlantic Treaty Organization“ überhaupt noch verteidigen soll. Mit Putins Krieg gegen die Ukraine hat sich das geändert. Heute rüsten die Mitgliedsstaaten auf, geben mehr Geld für Verteidigung aus. Inzwischen sind auch Schweden und Finnland dazugestoßen. Doch worauf genau bereitet sich das westliche Militärbündnis vor? Florence Gaub ist Forschungsdirektorin der Nato-Militärakademie in Rom. Die gebürtige Münchnerin ist Zukunftsforscherin, entwickelt also für Regierungen verschiedene Konflikt-Szenarien, berechnet die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen und spielt die möglichen Folgen durch. Zum 75. Jahrestag der Natogründung erklärt sie, was den Westen in den nächsten Jahren erwarten könnte.
Frau Gaub, blicken wir zehn Jahre in die Zukunft: Wie geht es dann der Ukraine?
Das ist schwierig zu berechnen, da es nur wenig Daten zum Krieg gibt – anders als zum Beispiel beim Klimawandel. Wir wissen wenig über den Zustand der russischen Armee, über die Motivation bei ihren Streitkräften. Wir könnten Statistiken über die durchschnittliche Dauer von Kriegen heranziehen, das wären 15 Monate – aber da sind wir schon drüber. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Krieg 2040 vorbei sein wird. Aber ich denke nicht, dass er in unmittelbarer Kürze endet.
2040? Das klingt ziemlich erschreckend.
Nicht falsch verstehen: Dann sollte er hoffentlich bereits vorbei sein. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass die nächsten drei bis fünf Jahre noch einmal anstrengend sein werden. Das ist aber nur meine Einschätzung. Die meisten Menschen befürchten ein ganz anderes Szenario.
Nämlich?
Dass Trump im November wiedergewählt wird und sagt: Wir unterstützen die Ukraine nicht mehr. Viele Menschen würden dann erwarten, dass der Krieg vorbei ist, weil die Ukraine nicht mehr hat, was sie braucht – und Russland alles platt macht.
Könnte das passieren?
Es gibt überhaupt keinen Grund, das zu glauben. Erstens hat die Ukraine auch andere Unterstützer als die USA. Und zweitens tendieren Konflikte eher dazu, ihre Form zu ändern, als einfach abrupt zu enden. Gut möglich, dass die Ukraine ohne die Unterstützung der USA ihre Art der Kriegsführung verändern würde – etwa vermehrt mit Angriffen auf russischem Gebiet, mit Attentaten, Autobomben. So haben wir das auch in Vietnam, Afghanistan und Syrien beobachtet.
Es gibt ein weiteres Szenario: Nato-Bodentruppen in der Ukraine. Was würde das für uns bedeuten?
Sagen wir, Macron schickt seine Truppen in die Ukraine – das würde uns nicht gleich mit in den Krieg ziehen. Damit der Bündnisfall greift, müsste Russland auf französischem Gebiet oder ein französisches Schiff angreifen. Ich habe allerdings auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Erfahrung gemacht, dass Macron nicht der Einzige ist, der mit dem Gedanken spielt. Auch in anderen westlichen Kreisen zieht man Bodentruppen in der Ukraine als nächste Eskalationsstufe in Erwägung.
Ist das wahrscheinlich?
Das kann ich nicht in Zahlen sagen. Aber im Krieg geht es auch darum, die andere Seite nicht wissen zu lassen, was man vorhat. Macron wollte Putin zu verstehen geben: Wir sind sehr entschlossen, die Ukraine nicht hängen zu lassen – und zwar ganz unabhängig davon, was die USA machen. Es ging ihm in erster Linie um Abschreckung. So wie Putin auch immer wieder von seiner Atombombe redet. Das heißt nicht, dass der Dritte Weltkrieg kommt – aber wir müssen extrem aufpassen, sowohl diplomatisch als auch militärisch, dass uns das Ganze nicht aus dem Ruder läuft.
Frankreich droht mit Eskalation während Deutschland versucht, sich nicht zu sehr einzumischen. Haben Sie dem Kanzler zu Taurus geraten?
Nein, aber ich weiß, was die Bundesregierung dazu denkt: Was passiert langfristig, wenn sich die USA zurückziehen, die Ukraine Moskau angreift und Deutschland plötzlich als Kriegspartei dasteht? Ich schätze die Gefahr zwar anders ein, aber respektiere die Meinung des Kanzleramts. Immerhin tut sich gut die Hälfte der deutschen Bevölkerung immer noch schwer mit der Vorstellung, dass die friedliche Welt von gestern erst mal nicht mehr zurückkommen wird. Auch denen muss Scholz gerecht werden.
Sind das die Mützenichs dieses Landes? Wie sehen Sie die Einfrierdebatte?
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es irgendwann zu Friedensverhandlungen kommt – die dann ins Nichts führen. Dann setzt man sich wieder an den Verhandlungstisch, und dann kracht es wieder. Das kann so durch mehrere Etappen gehen. Wir müssen verstehen, dass Krieg kein Fußballspiel ist, das mit dem Sieg einer Mannschaft endet. Ein Sieg der Ukraine ist nicht erreicht, wenn der letzte russische Soldat ukrainisches Territorium verlassen hat. Das war vielleicht früher so bei der Schlacht von Waterloo, wo sich zwei große Armeen trafen, zigtausende Menschen starben und am Abend alles entschieden war. Wie sollen wir uns in diesem Krieg eine Friedenslösung vorstellen können, wenn Russland sein Ziel nicht definiert hat? Ist es die Übernahme Kiews? Ist es der Tod Selenskyjs? Beide Seiten werden das Kriegsende zusammen definieren müssen – und das geht nur über Verhandlungen. Sie werden sich auf eine Reform einigen müssen, die sowohl Putin als auch Selenskyj zu Hause als Sieg verkaufen können. Ein Einfrieren gehört wohl nicht dazu.
In einem Brief an die Regierungen des Westens warnen Nobelpreisträger, 1938 dürfe sich nicht wiederholen. Damals hatten Großbritannien und Frankreich Hitler die Annexion des Sudetenlandes durchgehen lassen – ein Jahr später griff Deutschland Polen an. Könnte sich die Geschichte wiederholen?
Wir wissen, dass Putins Intention nicht nur die Ukraine ist. Viele hoffen ja, dass alles wieder wie vorher ist, wenn sich die Ukraine einfach ergibt. Aber Russland und auch China machen überhaupt keinen Hehl daraus, dass die Dominanz der westlichen Welt enden soll. Deshalb wird die Analogie mit 1938 auch von den meisten Nato-Mitgliedsstaaten geteilt: Wenn Putin in der Ukraine Erfolg hat, wird es zu einem Flächenbrand kommen – der sich dann weiter nach Georgien, Moldau, Belarus, Polen und ins Baltikum ausbreiten könnte.
Sie plädieren in Ihrem Buch für mehr Optimismus. Wie erklären Sie das den Menschen etwa im Baltikum?
Dort passiert ja schon viel mehr als bei uns – sowohl militärisch als auch in der mentalen Vorbereitung der Gesellschaft. Die Menschen haben dort immer mit der Bedrohung aus Russland gelebt. Deshalb stärken die baltischen Länder kontinuierlich ihr Militär. Das gibt den Menschen das Gefühl, Russland nicht vollkommen ausgeliefert zu sein. Das wünsche ich mir auch für Deutschland: Man hat Angst vor der Zukunft, wenn man das Gefühl hat, nichts tun zu können. Dabei könnte die Regierung ihre Bürger auf den Ernstfall vorbereiten: Etwa mit einem Aufruf, genug Wasser und Heizmaterial zu lagern. Das klingt erst mal bedrohlich, aber am Ende verschaffen uns solche Maßnahmen einfach nur Kontrolle – und damit auch Optimismus.
Gibt es die Chance, dass wir uns, sagen wir in 50 Jahren, Russland und China wieder angenähert haben?
Die Chance gibt es immer. Wir bekommen ein gutes Gefühl dafür, wenn wir auf die vergangenen 50 Jahre blicken. Es sind so viele Dinge passiert, mit denen man früher nie gerechnet hätte: Auch da haben wir uns an Russland und China nach dem Kalten Krieg angenähert – zumindest für eine gewisse Zeit. Erinnern wir uns an den Mauerfall, den Arabischen Frühling, dass sich das Ozonloch einfach wieder geschlossen hat. Man darf nie davon ausgehen, dass schon alles entschieden ist. In 50 Jahren bin ich 96 und hoffe doch, dass wir dann alle viel besser gealtert sind als unsere Vorfahren, weil wir Riesenfortschritte in der Wissenschaft gemacht haben, dass wir im Klimawandel das Schlimmste im Griff haben und dass wir zu unserer Ursprungsidee von 1945 zurückgefunden haben, als die Vereinten Nationen gegründet wurden, weil alle in Frieden miteinander leben wollten. Das ist doch am Ende das, was alle wollen. foto:pa Interview: Kathrin Braun
Zukunft.
Eine Bedienungsanleitung. Von Florence Gaub. 224 Seiten. dtv Verlag, 23 Euro.