Warme Worte – dann ging die Suche weiter: Sportvorstand Max Eberl (r.) beim Tuchel-Abschied. © FCB
Alles im Blick: Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß können den Verein noch nicht alleine lassen. © IMAGO
Kehrt dem FC Bayern den Rücken: Thomas Tuchel war 14 Monate im Amt – und geht heuer ohne Titel. © IMAGO
München – Die letzte Dienstfahrt hat Thomas Tuchel mit dem Fahrrad angetreten. Ein wunderbarer Pfingstsonntag im Münchner Nobel-Viertel Bogenhausen, die Sonne lachte, die Vögel zwitscherten; zum perfekten Abschluss-Bild des beim FC Bayern scheidenden Trainers hätte nur noch die gepfiffene Melodie des Gassenhauers „Ja, mia san mi‘m Radl da“ gefehlt. Tuchel hatte beste Laune, als er sich einen Tag nach seiner finalen Amtshandlung – einem 2:4 zum Saisonabschluss in Hoffenheim – beim gemeinsamen Brunch von Spielern, Funktionären und wichtigen Mitarbeitern verabschiedete. Ein paar Stunden, dann war es vorbei. Ab auf den Sattel, schnell nach Hause: auf (nimmer) Wiedersehen!
Der nächste Trainer ist weg. Mannschaft und Bosse noch da. Und wieder einmal sind alle Beteiligten nach dem Abpfiff der Bundesliga-Spielzeit auf der Suche nach Antworten. Die Frage, woher die erste titellose Saison seit 2012 rührt, ist schnell beackert – in der Chefetage sah man sich beim verkorksten letzten Tuchel-Spiel endgültig darin bestätigt, dass die im Februar beschlossene Trennung vom 50 Jahre alten Trainer die richtige Entscheidung war. Dringlicher sind dann doch die übergeordneten Themen. Wie konnte es soweit kommen, dass spöttische Stimmen über einen Verein, der mehr als ein Jahrzehnt unantastbar war, immer lauter werden? Und wie konnte das historisch verwurzelte Selbstverständnis jener Dünnhäutigkeit weichen, die aktuell von der Säbener Straße zu vernehmen ist?
Dass man diese Fragen nicht gerne hört, ist normal. Dass sie gestellt werden müssen, aber auch. Mittendrin in dem Raum, der zwischen beiden Ansichten liegt, ist Didi Hamann zu verorten, Ex-Spieler, sogenannter TV-Experte, und im Laufe dieser Saison gerne als „Chefkritiker“ des Vereins bezeichnet, bei dem er 20 Jahre lang (1978-1998) selbst aktiv war. Tuchel hat bisweilen unnötig pikiert auf die Aussagen des 50-Jährigen reagiert, das wurde ihm neben sprunghaften Kader-Forderungen und wenig Selbstreflexion auch von manchen angekreidet. Ja, Hamann übertreibt gerne, aber liegt auch nicht so oft vollkommen daneben. Zum großen Ganzen sagt er gegenüber unserer Zeitung: „Es ist symptomatisch für den Verein in den letzten Jahren, dass man immer denkt: Schlimmer kann es nicht mehr werden – und dann kommt doch noch was.“
Im Vorjahr wurden kurz vor Pfingsten Oliver Kahn als CEO und Hasan Salihamidzic als Sportvorstand freigestellt, heuer geht der Trainer, ohne dass in inzwischen fünf öffentlich bekannten Anläufen ein Nachfolger gefunden werden konnte. Hamann spricht das komplizierte Gesamtkonstrukt an – „da müssen sich die Bayern schon Gedanken machen, wie sie das in den nächsten Monaten und Jahren in den Griff bekommen“. Hört man sich intern um, heißt es aber, die Lage sei nicht so verzwickt wie noch vor rund 365 Tagen. Alles, was Kahn gemacht hat, sei an die Substanz des Vereins gegangen. Alles, was unter seinem Nachfolger Jan-Christian Dreesen noch nicht ganz rund läuft, sind Folgeerscheinungen.
Tuchel stand da als Person mittendrin: ad hoc nach dem vorschnellen Aus von Julian Nagelsmann verpflichtet, mit hohen Erwartungen gestartet, zwei Titel verspielt, mit zu forschen Transferforderungen gescheitert. Das Kind war schon im Herbst in den Brunnen gefallen, als der Blick der Bosse auf den Trainer immer kritischer wurde. Dass im Februar die Reißleine gezogen wurde – und die Entscheidung trotz Verhandlungen in der letzten Woche nicht revidiert wurde –, wurde als gemeinschaftlich und einvernehmlich verkauft. Nicht ganz unerheblich aber waren dabei auch die Worte von Ehrenpräsident Uli Hoeneß. Wie Karl-Heinz Rummenigge schützt er den Club, den sie zum Weltkonzern gemacht haben, mit allem, was er hat. Sie sind schon ein Mal bei der Suche nach adäquaten Nachfolgern gescheitert und wollen es diesmal richtig machen. Trotzdem sorgen sie dafür, dass die Konstellation, in der Personen mit, unter und neben ihnen arbeiten, als speziell bezeichnet werden darf.
Der eine Aufsichtsrat (Hoeneß) macht das bisweilen offensiver als der andere (Rummenigge), beide aber wissen, was sie wollen – und können. Ehrenpräsident Hoeneß gilt als Phänomen, als Seismograph; Rummenigge ist in der Welt des Fußballs vernetzt wie kaum ein Zweiter. Auch um sie herum wirken selbstbewusste Männer; Dreesen als Boss, Herbert Hainer als Präsident, dazu Max Eberl (Sportvorstand) und Christoph Freund (Sportdirektor). Dass das Organigramm – verbunden mit Eitelkeiten, Erfahrungswerten und Sympathien – so kompliziert ist, dass die Erstellung eines eigenen Profils für alle Bayern-Novizen ein echter Kampf sein kann, hat das neue sportlich verantwortliche Duo Eberl/Freund schon in den ersten gemeinsamen drei Monaten festgestellt. „Es kämpfen zu viele Menschen alleine in diesem Verein. Jeder will mitreden, es gibt zu viele Nebengeräusche und Grabenkämpfe“, sagt Hamann. Auch daran zu sehen, dass es in den letzten Monaten nicht einmal gelungen ist, wichtige Personalien im Verein zu klären, ehe sie öffentlich wurden. Irgendein Leck gibt es immer.
Für die Öffentlichkeit mag das unterhaltsam sein, für den Verein ist es Gift und bringt nach und nach Steine ins Rollen, deren gemeinsames Gewicht nicht ad hoc angehalten werden kann. „Diskretion“ und „Zurückhaltung“ sind daher Forderungen, die man von Hamann laut und hinter vorgehaltenen Händen leise hört. Sie werden häufiger genannt als der in der Branche übliche Reflex, die Rollen von Hoeneß und Rummenigge zu hinterfragen. Hamann etwa sagt: „Wenn Uli Hoeneß oder Karl-Heinz Rummenigge sich äußern, muss der Verein das aushalten.“ Ohne „Uli und Kalle“ würde dem Rekordmeister der ,Rekord‘ fehlen: „Die beiden sind der FC Bayern. Wenn das Kind auf die schiefe Bahn gerät, kannst Du sagen: Es ist alt genug. Oder du sagst: Ich muss da jetzt eingreifen.“ Nicht mehr und nicht weniger tun die Ex-Bosse aktuell.
Dass die Lage kompliziert ist, verneint keiner, den man fragt. Und freilich gibt es auch diejenigen, die den Wunsch, dass die beiden loslassen, lauter äußern als andere. Als Hauptproblem möchte sie trotzdem niemand dargestellt wissen, der täglich mitarbeitet. Sie verkörpern die Werte des Vereins, die bei der Neuorientierung in einer immer aufgeblaseneren Fußball-Welt nicht unwesentlich sind. Besonders, wenn sie von zwei aus dem Finanzwesen stammenden Vorständen – neben Dreesen wirkt Michael Diederich als CFO – vollzogen werden soll. Guter Rat ist manchmal nervig, aber wertvoll.
Im Moment gibt man kein gutes Bild ab, „katastrophal“, sagt Hamann sogar: „Die Leute in Singapur und überall sagen: Was ist denn bei den Bayern los?“ Sie alle werden sich damit abfinden, dass der eigentliche deutsche Branchenprimus Zeit brauchen wird, um wieder bei sich anzukommen. Das gilt für die Führung, aber auch auf dem Rasen, wo Hamann „keinen Grund sieht“, aus dem der neue Deutsche Meister Bayer Leverkusen in der Spielzeit 2024/25 „kein Favorit sein sollte“. Der noch zu findende neue Trainer wird mit einem Kader arbeiten, in dem, so hört man, fünf, sechs, sieben Spieler ausgetauscht werden – und für den ausgerechnet Leverkusen als Vorbild gilt. Man spricht es nicht gerne aus, aber hat durchaus auch in München vernommen, dass dort einer für den anderen rennt – und zwar immer.
Tuchel hatte am Ende einige Spieler hinter sich, aber das zu selten geschafft, heißt es; die Inkonstanz war seine Konstanz. Der Einzelfall aber soll nicht vom grundsätzlichen Bestreben ablenken, auch auf dem Trainerstuhl nach Kontinuität zu lechzen. Seit Pep Guardiola (2013-2016) war keiner viel länger als eineinhalb Jahre im Amt. Der Spanier gewann zum Abschied das Double – und gilt seitdem als Maßstab. Noch acht Jahre später würde man ihn mit dem Fahrrad in Manchester abholen.