INTERVIEW

„Mehr direkte Demokratie, das wäre gut“

von Redaktion

Ex-Bundesverfassungsrichter Peter Huber über das Grundgesetz, das heute 75 wird

In der Diskussion: Prof. Peter M. Huber (li.) im Pressehaus mit Dirk Ippen (Mi.) und Redakteur Dirk Walter. © Marcus Schlaf (2)

Das Grundgesetz wurde am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat in Bonn verabschiedet und trat am 23. Mai in Kraft. © Pa

München – „Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist mit dem Ablauf des 23. Mai in Kraft getreten und damit für 45 Millionen Menschen in Westdeutschland rechtsverbindlich geworden“ – so nüchtern lautete der erste Satz eines Korrespondentenberichts zur Verabschiedung unserer Verfassung heute vor 75 Jahren. Kommentatoren sind sich einig, dass das Grundgesetz ein großer Glücksfall ist – vor allem auch, wenn man bedenkt, in welch rasanter, heute undenkbaren Geschwindigkeit die 146 Artikel in nicht einmal einem Jahr formuliert wurden. Dennoch kann man fragen, ob das Grundgesetz nicht heute an der ein oder anderen Stelle behutsam fortgeschrieben werden könnte. Dieser Meinung ist Peter M. Huber, von 2010 bis 2023 Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe, heute Jura-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er diskutiert hier seine Ideen mit Merkur-Verleger Dirk Ippen.

Ist Deutschland in guter Verfassung?

Peter M. Huber: Ja, selbstverständlich ist Deutschland in guter Verfassung. Wir haben keine Regierungen gehabt, die die geltende Verfassungsordnung etwa durch eine Gleichschaltung der Justiz oder eine Abschaffung des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks unterminieren wollten. Es gibt keine Versuche von Amtsinhabern, die rechtsstaatlichen Sicherungen – Grundrechte, Minderheitenschutz, Gewaltenteilung – in Richtung einer illiberalen Demokratie auszuhebeln.

Dirk Ippen: Gibt es nicht weltweit Ansätze für einen autoritären Staat? In den USA, aber auch anderswo?

Huber: Definitiv. In vielen westlichen Demokratien ist die überkommene Ordnung unter Druck geraten. Das liegt auch an einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung, wie sie der britische Journalist David Goodhart beschrieben hat: Einerseits die „Anywheres“, die woken Großstadtmilieus, international vernetzt, begütert, gut ausgebildet, und andererseits die „Somewheres“, die Verlierer der Globalisierung, der vom Abstieg bedrohte Mittelstand, der vor allem in Kleinstädten und auf dem Land lebt. Diese Gesellschaftsanalyse wurde zwar kritisiert; ganz falsch ist sie nicht, und wir sind von diesen Trends nicht abgekoppelt.

Woran liegt das?

Huber: Ein Grund könnte sein, dass das große Wohlstandsversprechen der liberalen Demokratie nach dem Krieg so nicht mehr funktioniert. Es gibt Abstiegsängste in der Mittelschicht und auch eine größere Diskrepanz der Reichtumsverteilung. In den USA ist das ganz extrem; bei uns ist die Entwicklung vielleicht schwächer, aber es gibt sie auch hier.

Ippen: Wenn man sich jetzt den einzelnen Abgeordneten betrachtet in unserem parlamentarischen System, so ist er dagegen leider ziemlich einflusslos. Letztendlich herrscht strikte Fraktionsdisziplin im Bundestag. Sehen Sie einen Weg, das zu ändern?

Huber: Eine Idee wäre das sogenannte Grabenwahlrecht. Danach würde die Hälfte der Bundestagssitze in den Wahlkreisen mit der Erststimme vergeben, und zwar ohne Verrechnung mit den Zweitstimmen, die andere Hälfte mit der Zweitstimme über die Liste. Das würde die Unabhängigkeit der Abgeordneten von den Partei- und Fraktionsführungen erheblich stärken. Um nicht eine Partei einseitig zu bevorzugen, sollte es Stichwahlen geben, sofern ein Wahlkreisbewerber 50 Prozent der Stimmen nicht erreicht hat. Das gäbe auch im ersten Wahlgang schwächeren Kandidaten und ihren Parteien eine Chance.

Ippen: Sie halten im Bund auch mal eine Minderheitsregierung für möglich. Ein gewagter Gedanke.

Huber: Ich plädiere insoweit gegen Denkverbote. Natürlich ist das Regieren mit einer Minderheitsregierung schwieriger und unsicherer. Bevor es aber keine ernsthaften Alternativen im demokratischen Spektrum gibt, wäre eine Regierung SPD-pur oder Union-pur trotz fehlender Mehrheit die bessere Lösung. Demokratie lebt nun mal von Alternativen. Zudem wären im Falle einer Minderheitsregierung die Koalitionszirkel geschwächt und der parlamentarische Prozess käme mehr zu seinem Recht – unter den Augen der Öffentlichkeit!

Herr Huber, es gab bisher 67 Änderungen des Grundgesetzes. War das immer notwendig?

Huber: Vor allem bei den Änderungen zur Finanzverfassung gehen die Meinungen ja auseinander, ob das immer geglückt ist – Stichwort Schuldenbremse. Man darf die Leistungsfähigkeit des Rechts zudem nicht überschätzen. Wenn es ums Geld geht, findet die Politik in Deutschland und Europa (leider) fast immer Wege, um zu mehr Ausgaben zu kommen.

Ippen: Trotzdem schreiben Sie von einer Hypertrophie, also einer Überflutung der Rechtsordnung mit unabgestimmten Vorschriften und Gesetzen. Das ist doch Wahnsinn. 150 000 Rechtsakte der EU bisher, 15 000 Vorschriften durch Bundesrecht, dazu 8000 vom Land.

Huber: Das bedeutet für Beamte, Richter und Anwälte, dass sie ständig Gefahr laufen, etwas zu übersehen. Zum Beispiel sind für die Frage, ob man Flüchtlinge an den Binnengrenzen der EU-Staaten zurückweisen darf, drei nicht gut aufeinander abgestimmte Richtlinien zu beachten, die Dublin III-Verordnung und weitere Rechtsquellen, sodass letztlich niemand genau sagen kann, was gilt. So nimmt die Neigung zu, lieber nichts zu unternehmen, um keine Fehler zu machen.

Ippen: In einem Aufsatz zitieren Sie Montesquieu, den Erfinder der Gewaltenteilung, mit dem Ausspruch, wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es notwendig, das Gesetz eben nicht zu erlassen. Das finde ich bemerkenswert. Sie haben vorgeschlagen, dem Justizminister ein Vetorecht zu geben beim Erlass neuer Vorschriften, wenn diese mit dem Rechtssystem im Übrigen nicht ausreichend abgestimmt sind. Auch das wäre eine Überlegung wert.

Herr Huber, Sie waren über zwölf Jahre lang Bundesverfassungsrichter. Einmal selbstkritisch gefragt: Mischt sich das Gericht zu viel in die Politik ein – oder gar zu wenig?

Huber: Zu wenig sicher nicht. Das Bundesverfassungsgericht ist ein Bürgergericht und hat die Aufgabe, der Politik auf die Füße zu treten, wenn es nötig ist. Es ist von seinen Befugnissen her vielleicht das stärkste Gericht der Welt. Das zwingt eher zur Demut als zum Auftrumpfen. Als Bundesverfassungsrichter giert man jedenfalls nicht danach, sich einzumischen.

Ippen: Interessant ist zudem, dass Sie für Volksentscheide sogar auf Bundesebene plädieren. Ich war immer der Meinung, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes da skeptisch waren – zu Recht – weil das in der Weimarer Zeit total schiefgegangen ist.

Huber: In der Weimarer Republik gab es drei Volksbegehren – und alle drei scheiterten. Für die Instabilität der Demokratie waren Volksbegehren unwichtig. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss hat sie im Parlamentarischen Rat gleichwohl als Prämie für Demagogen bezeichnet. Das war eine elitäre Verzerrung. Die Weimarer Republik ist an der mangelnden Bereitschaft ihrer Bürger, sich hinter die Demokratie zu stellen, gescheitert, nicht an der direkten Demokratie. Im Übrigen lehrt die Erfahrung in Bayern, dass Volksbegehren und Volksentscheide den Abschottungstendenzen der Politiker in der repräsentativen Demokratie entgegenwirken können. Insofern: Mehr direkte Demokratie, das wäre gut.

Wie würden Sie denn mehr direkte Demokratie einführen?

Huber: Eigentlich wie in Bayern: Wir hatten hier 18 Volksentscheide seit 1946 – von der Abschaffung des Senats bis hin zum Rauchverbot. Die Erfahrung, als Bürger mitentscheiden zu dürfen, ist für das eigene Selbstverständnis als Staatsbürger nicht zu unterschätzen. Dabei sind die Quoren auch ein Relevanztest: Dass sich die bayerische Bevölkerung zum Beispiel für die G8/G9-Debatte nicht wirklich interessiert hat, war doch bemerkenswert.

Was müsste man gegebenenfalls im Grundgesetz ändern?

Huber: Artikel 20 des Grundgesetzes nennt Wahlen und Abstimmungen als Ausdrucksformen der Volkssouveränität. Das Verfahren müsste im Grundgesetz allerdings verankert werden, wobei man sich tatsächlich an der Bayerischen Verfassung orientieren könnte. Mehr als ein, zwei Volksentscheide je Legislaturperiode würde es nicht geben.

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