Michaela Stein hofft, dass sie und ihre Kinder bald wieder nach Hause können. © caz
Kanzler Olaf Scholz bedankt sich bei den vielen Helfern. © AFP
Pumpen, pumpen, pumpen: Verzweifelt versuchen die Reichertshofener, Keller und Häuser trocken zu bekommen. © EPA
Bis hier stand das Wasser: Hans Summerer zeigt in seinem Wohnzimmer den Schaden, den die Flut angerichtet hat. © caz
Teile von Reichertshofen sind am Sonntag vom Wasser überflutet. Am Montag entspannte sich die Lage, der Schaden ist dennoch riesig. © dpa
Tobias Niedermayr (links) ist seit 30 Jahren bei der Freiwilligen Feuerwehr. So ein Hochwasser hat er noch nicht erlebt. © caz
Ein Wäscheständer steht in einem überfluteten Garten in Reichertshofen. © Foto: Sven Hoppe/dpa
Reichertshofen – Hans Summerer, 59 Jahre alt, steht in seinem Wohnzimmer in Reichertshofen, der helle Fliesenboden ist von einem braunen Dreckfilm überzogen, man sieht Fußabdrücke. Er beugt sich vor, deutet auf eine Stelle an der Couch, vielleicht kniehoch. „So hoch stand das Wasser“, sagt er. Summerer zeigt noch auf die aufgequollenen Türstöcke aus Holz, auf die Wände, vom Boden her sind sie feucht. „Das muss man alles neu machen“, sagt er. Dann kommen ihm die Tränen, er dreht sich weg. „Wir haben alles so gut abgesichert“, sagt er dann noch. Mit Sandsäcken hat er die Haustür verbarrikadiert, auf dieser Seite ist das Flüsschen Paar nicht weit. Aber dann drückte das Wasser von der anderen Seite ins Haus. „Es ging so schnell“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Keine Chance.“
In Reichertshofen im Kreis Pfaffenhofen können sie es auch am Montag kaum fassen, was das Hochwasser ihnen angetan hat. Am Sonntag waren fast alle Straßen überflutet, nicht einmal mehr das Feuerwehrhaus war trockenen Fußes erreichbar. Jetzt ist der Pegel wieder niedriger, aber normal ist hier nichts. Supermärkte und Geschäfte sind geschlossen, dunkel, es gibt keinen Strom. In der Luft knattern Hubschrauber. Vor fast jedem Haus im Ortskern laufen Generatoren und Pumpen, aus den Kellern schlängeln sich Schläuche, Wasser sprudelt in die Gullys. Paletten mit Sandsäcken und feuchte Schränke stehen auf dem Gehweg, Spielsachen, ein Wäscheständer mit Klamotten zum Trocknen. „Jetzt muss alles schnell aufgeräumt werden“, sagt Summerer. Der Schlamm werde sonst hart wie Beton, und dann ist da noch der schmierige Ölfilm, der sich an vielen Stellen im Ort ausbreitet, man riecht das sogar. Draußen kehren Summerers Kinder, sein Schwager den Dreck weg. Alle helfen zusammen, aber sie wissen auch: Die Arbeit hat gerade erst angefangen.
■ Bundeskanzler Scholz kommt in Gummistiefeln und Jeans
Als schwarze Limousinen mit Blaulicht und Berliner Kennzeichen durch die Marktstraße des 7500-Einwohner-Orts fahren, stehen nur wenige Reichertshofener am Straßenrand und machen Fotos. Der Kanzler ist gekommen, in Gummistiefeln und Jeans, er will sich über die Lage im Hochwassergebiet informieren. Das finden die wenigsten schlecht, aber Zeit haben sie trotzdem keine, sie müssen ihre Keller trocken kriegen. Olaf Scholz (SPD) steht mehrere Minuten hinter einer Absperrung direkt am Ufer der Paar und unterhält sich mit Ministerpräsident Markus Söder (CSU), mit Kreisbrandrat Christian Nitschke. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) und Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber (Freie Wähler) sind da und schauen ernst auf den braunen Strom. Dann macht sich der Politikertross auf den Weg zum Feuerwehrhaus.
Dort sitzt Tobias Niedermayr, 43 Jahre alt und seit 30 Jahren bei der Freiwilligen Feuerwehr Reichertshofen. Er ist seit Samstag im Einsatz und isst jetzt eine Wurstsemmel. Das Hochwasser, gegen das er mit hunderten Kameraden gekämpft hat und immer noch kämpft, ist so hoch, wie er es noch nie gesehen hat. Er wirkt ruhig, aber was er erzählt, ist schlimm. „Wir haben alles gegeben“, sagt er. Aber es hat nichts gebracht, der künstlich errichtete Damm hielt nicht. Die Sandsäcke konnten nicht verhindern, dass hunderte Keller vollliefen. „Eine große Enttäuschung“, sagt er. Da ist die technische Herausforderung, mit der die Feuerwehrler umgehen müssen. Und dann ist da noch die psychische Belastung. Als Niedermayr mit anderen Helfern Sandsäcke befüllte, unweit eines überfluteten Gebietes, hörten sie schrille Schreie, stundenlang – Rehkitze, die um ihr Leben schrien. „Das geht durch Mark und Bein“, sagt der 43-Jährige. Nur zwei konnten die Feuerwehrler retten, die anderen waren zu weit entfernt, ein Einsatz wäre zu gefährlich gewesen.
Am meisten treibt die Einsatzkräfte am Montag aber der Tod eines Kameraden im nahen Pfaffenhofen um. Vier Feuerwehrmänner waren am Sonntag mit einem Boot unterwegs, um zwei Menschen aus ihrem Haus zu retten. Das Boot kenterte in einem Strudel, drei konnten sich ans Ufer retten, einer schaffte es nicht. Der 42-Jährige ertrank.
■ In der Schule finden Bürger ohne Heim Unterschlupf
Als diese Meldung am Sonntag über Funk verbreitet wurde, wollte Kreisbrandrat Christian Nitschke gerade ins Bett gehen. Doch dann fuhr er mit dem Landrat nach Pfaffenhofen, um sich um die Kameraden des Verstorbenen zu kümmern. „Die Feuerwehr haben wir jetzt freigestellt“, sagt der 44-Jährige. Zu groß ist die Trauer, das Entsetzen. „Das liegt alles wie ein Schatten über uns.“ Am Montagmittag erzählt er, dass er seit Samstagfrüh, 4 Uhr, insgesamt fünf Stunden geschlafen hat. „Der Körper schaltet aus und wieder an.“ Von Träumen oder Verarbeitung des Mega-Einsatzes sei noch lange nicht die Rede, dafür fehlt noch die Zeit. Es ist nämlich so: Fast alle Feuerwehrler hier haben auch private Sorgen. Nitschkes Elternhaus ist nach dem Hochwasser abrissreif, es stand mitten in der Flutwelle, auch sein Bruder ist obdachlos. Und die Firma für Krankenhauslogistik, bei der er als Standortleiter arbeitet, steht still – kein Strom.
Wann die elektrische Versorgung wieder läuft, ist noch völlig unklar, sagt der Reichertshofener Bürgermeister Michael Franken am Montag. Die Tankstellen funktionieren nicht, die Schulen sind eh zu, in einem Kindergarten gibt es eine Notgruppe, der andere wurde überschwemmt, da müssen die Gruppen erst einmal auf andere Einrichtungen verteilt werden – wenn wieder normaler Alltag möglich ist. In der Schule haben sie eine Notunterkunft eingerichtet, dort sind 100 Bundeswehrler untergebracht, die mit schweren Fahrzeugen in der Region unterwegs sind. Und dort haben auch 150 Bürger Unterschlupf gefunden, die gerade nicht in ihr Zuhause können. Viele kommen aus dem nahen Baar-Ebenhausen, das von dem Hochwasser mindestens genauso schlimm betroffen ist wie Reichertshofen.
In der Zweifach-Turnhalle der Grundschule stehen Feldbetten, am Eingang Kisten mit Brezen, Süßigkeiten, Obst. Ein paar Spiele für Kinder liegen aus, Puzzles, Bücher. Auf einem Stuhl in der Halle sitzt stumm Michaela Stein, 41 Jahre alt. Sie hat hier mit ihren Eltern, ihrem Mann und den Kindern, neun und sechs Jahre alt, die Nacht verbracht. „Ich habe kaum geschlafen“, sagt sie. Die Geräuschkulisse in der großen Halle ist das eine, die Sorgen um das Zuhause sind das Schlimmste. In Baar-Ebenhausen hat die junge Familie vor acht Jahren ein Haus gebaut. Als am Sonntag in dem Ort der Damm brach, lief das Haus rasend schnell voll. Zehn Minuten hatte Michaela Stein Zeit, um die wichtigsten Dinge einzupacken. „Ich habe den Kindern zwei Taschen in die Hand gedrückt und gesagt, nehmt mit, was ihr könnt.“ Dann kletterten sie aus dem Fenster, auf einem Traktoranhänger wurden sie ins Sportheim gefahren. Doch das war zu dem Zeitpunkt auch schon überflutet. Also landeten sie in Reichertshofen. Und warten seitdem. Michaela Stein blickt ernst in die Halle, ihre Kinder schauen auf dem Tablet einen Film. Wie sieht es wohl daheim aus? Ist was zu retten? Sind wenigstens die Autos in der Garage noch intakt? „Man ist so machtlos, das ist das Schlimme“, sagt sie. Sie hofft, dass das Wasser schnell zurückgeht. Dass sie Strom haben. Dass sie was tun können.
■ Auch das Rote Kreuz kümmert sich um die vielen Gestrandeten
In einer anderen Ecke der Turnhalle sitzt ein älteres Paar auf Stühlen, Lilo und Heinz Levc. Sie ist 78, er ist 92, die Nacht auf dem Feldbett war anstrengend. Auch sie sind aus Baar-Ebenhausen evakuiert worden, aus einer Mietswohnung im Hochparterre. „Da ist kein Wasser drin, aber es ist trotzdem ein mulmiges Gefühl“, sagt Lilo Levc. Und langweilig ist es natürlich auch in der Unterkunft, seit Sonntagvormittag sind sie dort. „Wenn ich gewusst hätte, wie lange wir hier sind, dann hätte ich den Kniffel mitgenommen“, sagt die 78-Jährige und lacht ein bisschen. Und dann sagt sie noch: „Die Versorgung hier ist wirklich 1a!“ Die hat hier in Reichertshofen das Bayerische Rote Kreuz übernommen, BRK-Präsidentin Angelika Schorer schaut am Montag vorbei und bedankt sich bei allen Helfern. Auf der Straße, in der Halle, überall.
Danke – dieses Wort fällt oft an diesem Montag, Scholz, Söder, Faeser, Herrmann wiederholen immer wieder, wie wichtig der Einsatz der zumeist ehrenamtlichen Helfer ist. 20 000 Helfer sind derzeit in ganz Bayern unterwegs. „Wertschätzung ist schon wichtig“, sagt Kreisbrandrat Christian Nitschke. Andere Feuerwehrler sagen unter der Hand, dass sie das Schaulaufen von der Arbeit abhält und die Abläufe stört. Schon am Sonntag war Ministerpräsident Söder in Reichertshofen gewesen. Kanzler Scholz verspricht am Montag immerhin Unterstützung, das bayerische Kabinett will sich am Dienstag mit der Hochwasserlage und Hilfen für die Betroffenen befassen. Die sind dringend nötig. Hans Summerer, dessen Haus bis ins Erdgeschoss mit Wasser voll war, wollte sich versichern. „Wir wohnen so nah an der Paar“, sagt er. „Die Elementarversicherung hätte 10 000 Euro im Jahr gekostet. Das kann sich doch niemand leisten.“