Kandidaten mit Kanten und Kratzern

von Redaktion

Für die AfD: Spitzenkandidat Maximilian Krah. © dpa

Für die Freien Wähler: Christine Singer. © dpa

Für die Grünen: Spitzenkandidatin Terry Reintke. © dpa

Für die FDP: Marie-Agnes Strack-Zimmermann. © afp

Für die SPD: Spitzenkandidatin Katarina Barley. © dpa

Bündnis für Brüssel? Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) ist die Spitzenkandidatin der EVP von Manfred Weber (CSU). In Wahrheit sind sie etwas distanzierter. © dpa

München – An der Backsteinwand von Manfred Webers Heimatkirche steht unter einer Sonnenuhr: „Von diesen Stunden eine ist einmal die deine“. Der CSU-Spitzenpolitiker weiß als Katholik und lebenslang aktives Mitglied der kleinen Pfarrgemeinde Pürkwang: Dies ist kein Motivationsspruch für das Warten auf den goldenen Moment, sondern ein freundlicher Hinweis auf die Endlichkeit der Dinge.

Webers Stunde schlug – politisch – im Sommer vor fünf Jahren. Und zwar in beiderlei Hinsicht. Der heute 51-Jährige führte die Europäische Volkspartei (EVP) als Spitzenkandidat zum Wahlsieg und sich selbst nahe an den höchsten Brüsseler Posten, den des Kommissionspräsidenten. „Wenn man die Unterstützung spürt“, erinnert er sich heute, „dann muss man springen, dann muss man das probieren.“ Weber sprang ins Leere. Er wurde übergangen und in den Brüsseler Hinterzimmern ersetzt durch Ursula von der Leyen (CDU), die nicht zur Wahl gestanden hatte.

„Ich war mir bewusst, dass das mit tausend Unsicherheiten und Unwägbarkeiten verbunden ist, wenn du auf einem Kontinent auf der Spitzenebene arbeitest, dass da tausend Fallstricke warten“, erzählt er mit ruhiger Stimme. Doch Weber ist noch da – und alles andere als ein Hinterbänkler: Er machte 2019 nach der Wahl weiter als Fraktionsvorsitzender der EVP, wurde 2022 zusätzlich Parteichef. Er zieht die Fäden: als Anführer der stärksten Fraktion und Koordinator der 13 konservativen EU-Regierungschefs.

Am Sonntag tritt er nun erneut als Spitzenkandidat an. Allerdings diesmal nur für die CSU. Von der Leyen ist nun offiziell Nummer eins für Europas Konservative. Weber soll für sich, aber auch für die Kollegin kämpfen, die auf keiner Liste fürs Parlament antritt. 150 Termine machte er bisher, ein Dutzend Bierzelte, zahllose Interviews, teils zwei oder mehr Podiumsdiskussionen mit den anderen Parteien: Oft bekam Weber da eine Mischung zu hören aus persönlicher Wertschätzung, aber auch gerade in Bayern Vorbehalten gegenüber von der Leyen, der Merkel-Freundin mit den wandelbaren Positionen bis hin zum umstrittenen „Green Deal“.

Der ruhige, nachdenkliche Niederbayer gilt manchen als Gegenentwurf zu Parteichef Markus Söder, beide sind keine engen Freunde. Wohlwollende sagen: Sie ergänzen sich. Wobei Weber für sich in Anspruch nehmen kann, Europas Agenda verändert zu haben, gerade seit 2023 etwa in der Migrationspolitik (Zäune!) oder bei Entlastungen für Landwirte. Umfragen sahen die CSU zuletzt bei 41 bis 43 Prozent, es wäre nach den 37 Prozent bei der Landtagswahl ein Resultat, das als Sieg empfunden würde.

Wobei es, und das ist ungewöhnlich an dieser Wahl, bei kaum einer Partei Spitzenkandidaten ohne Blessuren gibt. Besonders krass ist die Lage bei der AfD, die früher mal als relativ größter Gewinner der Europawahl vermutet wurde. Inzwischen haben die bundesweiten Spitzenkandidaten auf 1 und 2, Maximilian Krah und der Münchner Petr Bystron, Auftrittsverbot wegen diverser Vorwürfe und Ermittlungen. Unter anderem geht es um angebliche Bestechlichkeit durch Russlandfreunde. Von der Liste entfernen konnte die AfD ihre Bewerber nicht mehr. Zudem hat die radikal rechte „ID“-Fraktion im Europaparlament die AfD insgesamt rausgeworfen nach verharmlosenden Aussagen zur NS-Zeit. Im letzten BR-Bayerntrend (Mai) wurde die AfD in Bayern auf 12 Prozent taxiert, bei Sat1 auf 14. Offen ist, ob die jüngsten Debatten um Messerattacken noch einen kleinen Schub geben.

Der Kummer bei den Grünen erscheint dagegen fast gering. Bundesweit lastet auf der Partei natürlich, wie auch auf SPD und FDP, das schlechte Ampel-Image aus Berlin. Spitzenkandidatin Terry Reintke (37), seit 2014 im Parlament, ist unumstritten. Die gebürtige Gelsenkirchenerin zählt zu den Linken in der Partei. In Bayern gab es indes Murren, weil kein einziger Kandidat einen aussichtsreichen Listenplatz bekam. Die Finanzpolitikerin Andrea Wörle (38, aufgewachsen in einem Dorf im Ostallgäu) landete auf Platz 16. Hintergrund ist, dass der eigentlich von der bayerischen Basis gewählte Spitzenkandidat Malte Gallée über eine Affäre zu angeblicher Belästigung stürzte. Die letzten Umfragen sehen die Grünen bei 12 bis 14 Prozent.

Die SPD, ebenfalls mit bundesweiter Liste, tritt mit Katarina Barley aus der Nähe von Trier an. Die vielsprachige 55-Jährige, Tochter eines Briten und einer Deutschen, ist Vizepräsidentin des Parlaments, war Ministerin (Justiz, Familie) in Berlin. Barley steht für eine klare Abgrenzung gegen Rechtsradikale, warnt vor einem Rechtsruck in der EU. Als Bayerin ein sicheres rotes Ticket hat Maria Noichl dank Listenplatz drei. Sie kämpft im Parlament für Frauenrechte und zählt zu jenen Abgeordneten, die gegen den Asyl-Plan der EU stimmten. Die letzten bayerischen Umfragen aus dem Mai sehen die SPD bei 9 Punkten.

Die FDP holt mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann ein prominentes Gesicht der Bundespolitik nach Brüssel, und zwar ohne Rückfahrticket. Ihren Vorsitz im Verteidigungsausschuss gab die streitlustige und wortgewaltige 66-Jährige aus Düsseldorf bereits auf. Mit ihrem scharf pro-ukrainischen Kurs und manchmal schriller Kritik an Kanzler Scholz („autistisch“) machte sie Schlagzeilen, aber nicht nur positive. Erster Bayer auf der Liste ist Phil Hackemann (29, München), Platz 7 ist nicht sicher.

Eine erhebliche Rolle in Bayern spielen zudem die Freien Wähler, allerdings auch sie mit bundesweiter Liste. Vorne steht mit Christine Singer (59) die Landesbäuerin aus dem Landkreis Garmisch-Partenkirchen. Sie ist verwurzelt am Land und in der Kommunalpolitik, ohne Berührungsängste, im Umgang herzlich, allerdings in der „großen“ Politik noch unerfahren und auch mit Englisch-Sprachbarriere. Singer soll Ulrike Müller aus Schwaben ablösen, die zuletzt für Ärger sorgte, weil sie ein Doppelmandat in Brüssel und München antrat, mehrfach bei wichtigen Sitzungen fehlte und dann auch noch in Urlaub fuhr. Letzte Umfragen: neun Prozent, am Einzug gibt es keine Zweifel. Parteichef Hubert Aiwanger ließ sich, obwohl er nicht kandidiert, in den letzten Tagen als bekanntestes FW-Gesicht sicherheitshalber selbst plakatieren.

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