Der Osten wird blau

von Redaktion

Matthias Quent, Extremismusforscher, sieht einen Rechtsruck im Osten. © dpa

Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident Sachsens, fordert einen neuen Kurs. © dpa

Dresden/München – Es ist spät am Sonntagabend, als Sachsen einmal tief in einen Abgrund schaut. Die Zwischenergebnisse zur Europawahl trudeln ein, eine Grafik hält den Moment fest. Die AfD landet bei knapp 37 Prozent, weit dahinter CDU (23) und Wagenknecht (13). Dahinter: lange nichts. Es ist nur ein Zwischenstand, alles in Bewegung. Aber wer genau hinschaut, muss erschrecken in diesem Augenblick. Es hieße, projiziert auf die Landtagswahl am 1. September: Wenn das so ausgeht, stellt die AfD den Ministerpräsidenten. Und regiert mit absoluter Mehrheit.

Bis zum Morgen verschieben sich die Ergebnisse in Sachsen noch etwas. Doch in der Gesamtschau bleibt ein zentrales Resultat dieser EU-Wahl: In Ostdeutschland ist die AfD stärkste Kraft. Flächendeckend, nicht irgendwie vereinzelt. Weiterhin auf dem Land und neu nun auch in den Großstädten.

Kretschmer mahnt Kurswechsel an

Man sieht einen alarmierten Ministerpräsidenten am nächsten Morgen. Michael Kretschmer, CDU, nimmt an der Sitzung des Parteivorstands in Berlin teil, spricht vorher mit Journalisten. Er fleht fast um einen Kurswechsel: Redet weniger über die AfD, ist seine Botschaft, sondern löst die Probleme, die ihre Wähler umtreiben. „Dieses Land braucht eine stabile Demokratie, aber das gelingt nur, wenn die Demokratie, wenn der Rechtsstaat wirklich die Probleme löst, dann werden wir es schaffen, auch den Populisten den Nährboden zu entziehen.“ Die Themen seien in den vergangenen zwei Jahren die gleichen gewesen, sagte Kretschmer: „Migration, Energiepolitik, ein übergriffiger Staat und die Frage, wie man mit diesem Krieg, mit diesem furchtbaren Krieg in der Ukraine umgeht.“

Der Blick auf die Ergebnisse (siehe Grafik oben) macht Kretschmers Sorgen plastisch. Es ist, als hätte jemand die DDR wieder eingezeichnet. In Brandenburg konnte die CDU nur in Potsdam-Mittelmark gewinnen. 20,8 Prozent, zarte 0,3 Prozent Vorsprung auf die AfD. Mit Berlin und Potsdam gibt es zwei grüne Sprenkel, in Thüringen ist die AfD in Erfurt, Weimar und Jena knapp an der CDU gescheitert. Ansonsten: alles blau. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ist es sogar ein kompletter Durchmarsch. In vielen Kreisen kommt die AfD deutlich über die 30 Prozent, in Görlitz, dem östlichsten Landkreis der Republik, sogar auf 40,1. Zum Vergleich: In Bayern hat die AfD in Regen (20,2) und Freyung-Grafenau (19,7) die meisten Stimmen geholt, die wenigsten in München (6,7).

Auch bei den Kommunalwahlen parallel zur EU-Wahl räumt die AfD ab. In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt hält sie dank hoher Zugewinne die CDU auf Distanz. In Sachsen droht ebenfalls ein AfD-Sieg. Allein in Thüringen setzt es Dämpfer. Dort verliert die AfD die Stichwahlen um zwölf Landratsposten gegen Kandidaten von CDU, SPD, Freien Wählern und eine parteilose Amtsinhaberin.

Rechtsextremismus lässt AfD-Wähler kalt

Das Ergebnis ist ein Schock. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gilt die AfD als gesichert rechtsextrem, in Brandenburg als Verdachtsfall. Egal. Die AfD zu dämonisieren, habe nicht funktioniert, sagt der Soziologe und Extremismusforscher Matthias Quent. Der Osten Deutschlands habe „einen großen Schritt nach rechts“ gemacht. Der AfD sei es gelungen, sich kommunal zu verankern. Wenn sie stärkste Fraktion sei, könne man noch weniger an ihr vorbei Politik betreiben. Zugleich gelte es, das Grundgesetz zu verteidigen. „Das ist eine äußerst schwierige Situation.“

Dass der Vorwurf des Rechtsextremismus viele Wähler nicht schreckt, zeigt eine Erhebung der Wahlforscher von infratest dimap zur EU-Wahl. 71 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland schätzen die AfD demnach als rechtsextrem ein – bei den AfD-Wählern sind es nur fünf Prozent. Und: 82 Prozent der AfD-Anhänger gaben an, das sei ihnen auch egal, solange die AfD die richtigen Themen anspreche.

46 Prozent der Befragten finden es gut, dass die AfD den Zuzug von Ausländern und Flüchtlingen begrenzen möchte – deutlich mehr als bei der EU-Wahl 2019. Ähnlich viele begrüßen es, dass die Partei den Einfluss des Islam verringern will. „Viele Menschen in Ostdeutschland wünschen sich, dass die Migration verringert oder sogar beendet wird“, sagt der Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt. Auch die Energiepolitik und Russlands Krieg seien Faktoren für den Wahlerfolg der AfD in Ostdeutschland: „Das Klima-Thema war bei der letzten EU-Wahl entscheidend. 2019 nahmen die Wähler an, in einer Welt des Wohlstands und des gesicherten Friedens zu leben. Die Sicherung der Klimastabilität erschien quasi als das einzige Problem.“ Doch die Welt habe sich seitdem gewandelt.

Auch infratest dimap bestätigt einen Perspektivwechsel. Der Klimawandel ängstige zwar immer noch zwei von drei Wählern, aber Zuwanderung, Kriminalität, ein zunehmender Einfluss des Islam und ein geringerer eigener Lebensstandard würden die Menschen stärker beschäftigen als noch bei der Europawahl 2019.

Weidel: AfD stellt bald Ministerpräsident

Der Rechtsruck im Osten ist für den Soziologen Matthias Quent ein Fingerzeig für die Landtagswahlen im September in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Es sei von ähnlichen Ergebnissen auszugehen. Den harten Kern der AfD-Wähler werden man „auch durch gute Politik nicht erreichen“. Die neuen Wahlerfolge seien aber nicht mit dem harten Kern zu erklären. Viele Arbeiter und Angestellte fühlten sich nicht repräsentiert von den anderen Parteien und wählten AfD. Noch gebe es aber Handlungsspielräume. Die Mobilisierung anderer Parteien in Thüringen habe etwa dazu geführt, dass die AfD die Landratswahlen verlor. „Es gibt jetzt keinen Grund für Ohnmacht.“ Bei den Landtagswahlen werde auch der Amtsinhaberbonus eine Rolle spielen.

Bei der AfD wähnt man sich bald am Ziel. Alice Weidel formulierte gestern in Berlin Machtansprüche. „Wenn Sie sich die Ergebnisse in Sachsen anschauen, dann wissen Sie, wer den nächsten Ministerpräsidenten stellt“, sagte sie. „Wir haben den Anspruch zu regieren.“ Tino Chrupalla, mit Weidel Parteichef, sieht seine Partei auch zunehmend koalitionsfähig. „Es wird keine Brandmauern mehr geben, weil diese Brandmauern eingestürzt sind“, sagte Chrupalla im Deutschlandfunk. Ob 2029 oder 2032, irgendwann werde man „auch in Fläche die Hauptverantwortung in Landräten und Bürgermeistern stellen“.

Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU), sieht einen klaren Auftrag: Wettbewerbsfähigkeit und Frieden sichern – und „die Migrationsfragen klären“. Man müsse „die Sorgen der Menschen ernst nehmen, das umsetzen, was sie von uns einfordern“, sagte Weber gestern. „Wenn uns das gelingt, ist das die beste Methode gegen Rechtsradikalismus.“

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