Das soziale Gewissen der Republik

von Redaktion

Den goldenen Ehrenring erhielt Bentele 2010 von OB Christian Ude in München. © Bodmer

Ihr letztes Gold holte Bentele 2010 in Kanada. © dpa

Auf dem Dorffest unterhält sich Bentele mit VdK-Mitgliedern.

Sie erobert gerne Herzen: VdK-Präsidentin Verena Bentele. © Michaela Stache (2)

München – Verena Bentele wird nicht gern ausgebremst. Manchmal passiert es aber. Zum Beispiel durch Leute, die am Bahnsteig auf dem Leitstreifen stehen, den sie braucht, um sicher neben dem Gleis zu laufen. Ihr Tag hat früh begonnen, um 6 Uhr ist sie in Berlin in den Zug gestiegen, hatte unterwegs eine Videokonferenz mit der IG Metall. In der VdK-Zentrale in Schwabing warten bereits Journalisten auf sie. Jeder Tag im Leben der VdK-Präsidentin ist eng getaktet. Für Bentele ist das kein Problem. Sie ist immer schnell unterwegs – obwohl sie blind ist. Aber an diesem Morgen nimmt sie sich einen Moment Zeit, um die Menschen am Bahnsteig zu bitten, aufmerksamer zu sein und einen Schritt zurückzutreten, wenn ein blinder Mensch versucht, den Weg zu finden. „Ich weiß, dass es oft keine Absicht ist“, sagt sie. „Aber es ist gedankenlos.“

Bentele ist ein direkter Mensch. Wenn sie etwas ärgert, sagt sie es. Egal, ob vor ihr ein Spitzenpolitiker steht oder ein Bahnreisender. Häufiger sind es Politiker, die ihre klaren Worte zu hören bekommen. Viele VdK-Mitglieder schätzen sie dafür. Sie sei glaubwürdig, sagen sie. Sie spreche mit Herz und Verstand.

Mit ihren 42 Jahren ist Verena Bentele deutlich jünger als die meisten der 2,2 Millionen VdK-Mitglieder in Deutschland. Doch die junge Präsidentin kommt bei ihnen gut an. Seit sie 2018 das Amt übernommen hat, ist der Sozialverband gewachsen und gewachsen. In Bayern hat er inzwischen über 800 000 Mitglieder. Mehr als der FC Bayern oder alle Parteien zusammen. Das ist ein schönes Signal, sagt sie. „Unter ihnen sind viele Menschen, die uns politisch unterstützen wollen.“ Gleichzeitig sind die steigenden Mitgliederzahlen auch ein Zeichen dafür, dass viele Menschen in unserem Sozialstaat nicht mehr klarkommen, betont sie. „Sie kennen ihre Rechte nicht, viele Anträge sind zu kompliziert.“

Dieses Feedback bekommt die VdK-Präsidentin oft ganz direkt. Zum Beispiel beim Haderner Dorffest, wo sie an diesem Tag eine Rede hält. Das Bierzelt ist voll mit VdK-Mitgliedern. Als Bentele sich am Arm eines Freundes den Weg zur Bühne bahnt, spricht eine ältere Dame sie an. „Frau Bentele, ich finde Ihr Engagement einfach toll“, sagt sie. „Danke, das ist nett von Ihnen“, sagt Bentele. Kurz darauf steht sie auf der Bühne. Wie viele Blicke und Handys gerade auf sie gerichtet sind, kann sie nicht sehen. Aber sie kann die Aufmerksamkeit hören. So still wie jetzt ist es selten in einem Bierzelt. Eine Rede hat sie sich nicht schreiben lassen, sie spricht meist frei. Die Bühne will sie nutzen, um zu fordern, dass Frauen für gleiche Arbeit gleichen Lohn bekommen. Noch kämpferischer wird ihr Ton, als es um pflegende Angehörige geht. Bentele wird lauter, verspricht, in Berlin dafür zu kämpfen, dass Menschen, die Familienmitglieder pflegen, einen Lohnausgleich bekommen. Donnernder Applaus. Ein Ehepaar an einem Tisch nickt anerkennend. „Die weiß, was sie sagt“, findet er. „Sie ist wirklich eine starke Frau, wir sind heute wegen ihr hierher gekommen“, sagt sie.

Politische Bühnen waren nicht immer Benteles Welt. Früher war sie auf Skipisten in ihrem Element. So wie sie heute gegen Ungerechtigkeiten kämpft, hat sie es damals für Goldmedaillen getan. Als blinde Biathletin holte sie zwölf Mal olympisches Gold, vier Mal wurde sie Weltmeisterin. „Ich bin immer ehrgeizig gewesen“, sagt sie. „Und ich war immer sehr schnell bei allem was ich tue.“ Schon in der Kindheit auf einem Biobauernhof am Bodensee. Beim Ausreiten oder wenn sie ihre beiden älteren Brüder geärgert hatte und weglaufen musste. So schnell wie sie unterwegs ist, spricht sie auch. „Mein Vater hat mir mal gesagt, dass er seit Jahren Schwierigkeiten hat mit meinem Sprechtempo“, sagt sie und lächelt sich Lachfalten um ihre grünen Augen. „Ich bin halt ein Mensch mit hoher Drehzahl.“

Bentele ist blind geboren. Auch ihr ältester Bruder ist blind. Ihre Eltern haben sie immer unterstützt, aber nie behütet, erzählt sie. Sie musste im Haushalt helfen, war mit dem Rad genauso schnell wie andere Kinder. Bentele hat gelernt, Hindernisse zu fühlen. Sie hört den Schall, der von Wänden zurückkommt. Mit sechs Jahren kam sie auf ein Internat für blinde Kinder. Lieber wäre sie mit ihren Freunden auf eine normale Schule gegangen, sagt sie. Andererseits: Dann wäre sie wohl vom Sport befreit worden.

Sie ist drei, als sie das erste Mal auf Skiern steht. Schnee bedeutet für sie Geschwindigkeit, Freiheit. Das Skifahren wird ihre Leidenschaft. Mit 16 wird ihr in Japan die erste Goldmedaille um den Hals gehängt. Plötzlich ist sie nicht mehr das blinde Mädchen, sondern erfolgreiche Biathletin. „Ich bin immer ehrgeizig gewesen“, sagt Bentele. Und eine Perfektionistin. „Mein Anspruch an mich selbst ist sehr hoch. Und er ist auch hoch an die Menschen, die mit mir arbeiten. Das kann anstrengend sein.“

Bentele ist auf ein starkes Team angewiesen. Zu vertrauen hat sie früh gelernt. Musste sie ja. „Ich habe schnell gemerkt, was ich durch die Unterstützung anderer Menschen erreichen kann.“ Es hat sie auf Berggipfel gebracht – sogar auf den Kilimandscharo. Einmal aber auch in den Abgrund. 2009 bei der Deutschen Meisterschaft. Ihr Begleitläufer verwechselte damals rechts und links, Bentele stürzte ab und verletzte sich schwer. „Damals musste ich wieder neu lernen zu vertrauen.“ Sie wollte ihre Karriere nicht mit einem Unfall beenden, kämpfte sich wieder auf die Piste und holte im nächsten Jahr bei den Paralympics fünf Goldmedaillen. Erst danach zog sie sich aus dem Sport zurück.

Sie ist erst 28, als sie ihre zweite Karriere beginnt. Mit einem Germanistikstudium, dann mit einer Coaching-Ausbildung. Dass ihr Weg sie auf politische Bühnen führt, verdankt sie einem Mann namens Christian Ude. Er bittet sie, ihn im Wahlkampf bei den Themen Inklusion und Sport zu unterstützen. Ihr Lebensthema. Bentele tritt in die SPD ein. Schon bald wird Berlin auf sie aufmerksam. Sie bekommt einen Anruf von Andrea Nahles, damals Bundessozialministerin. Die will wissen, ob Bentele sich vorstellen könnte, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung zu werden. Nach zwei Tagen sagt sie zu.

„Politik hat mich immer interessiert“, sagt sie rückblickend. In ihrer Familie ging es am Essenstisch immer um Politik. „Bis heute macht es mich wahnsinnig, wenn sich Leute ständig beschweren, aber nichts tun. Ich wollte etwas tun.“ Doch sie musste lernen, dass zu Politik auch viel Kalkül und Profilierung gehört, sagt sie heute. Dass es nicht nur um Argumente, sondern auch um Kompromisse geht.

„Es war für mich eine Lernerfahrung, wie man Leute mitnehmen kann. Und dass es oft lange dauert, Dinge zu verändern.“ Dabei half ihr ihre Vergangenheit als Profisportlerin. Verena Bentele hat einen langen Atem. Sie wird nicht müde, immer wieder dieselben Probleme anzusprechen. Ob im Bierzelt oder in Mikrofone von Journalisten. „Ich habe ein hohes Energielevel und viel Ausdauer“, sagt sie.

Seit sie VdK-Präsidentin und VdK-Landesvorsitzende in Bayern ist, dauern ihre Tage häufig zwölf Stunden. Ihr Leben spielt halb in Berlin, halb in München. Sie hat eine Stilberaterin, die sie dabei unterstützt immer perfekt gekleidet zu sein. Zu Hause hat sie ein Farberkennungsgerät, das ihr hilft, farblich passende Outfits zusammenzustellen.

An diesem Tag wartet ein Kamerateam in der VdK-Zentrale, als sie vom Bahnhof kommt. Der Zug hatte drei Minuten Verspätung, die hat Bentele unterwegs wettgemacht. Wenn sie keinen Koffer dabei hat, läuft sie die sechs Stockwerke in ihr Büro – und ist meist schneller oben als der Fahrstuhl. Während eine Mitarbeiterin sie für das Interview brieft, schminkt sie sich schnell. Dann tritt sie vor die Kamera. „Wie lange sollen meine Antworten sein?“ Bentele ist ein Kamera-Profi. Sie spricht frei, ohne sich zu verhaspeln. Auf dem Weg zurück in ihr Büro schaltet sie gedanklich zum nächsten Thema um. Es stehen noch einige Konferenzen und Videocalls an. Abends ist Bentele zum Joggen verabredet. Sie trainiert für den Mauerlauf in Berlin. 58 Kilometer will sie im August laufen. Sie hat immer ein Ziel vor Augen, auf das sie hinarbeitet. Mal ist das eine Alpenüberquerung, mal einer der höchsten Berggipfel, mal ein Fahrradrennen durch Norwegen.

Verena Bentele liebt diese Momente in der Natur. Dafür findet sie immer Zeit, trotz vollem Terminplan. „Ich brauche kein ruhigeres Leben“, sagt sie. „Aber ein bisschen weniger Zeit im Zug wäre schön.“ Das Leben in zwei Städten ist anstrengend. Oft bleibt wenig Zeit für ihre Freunde, ihren Lebensgefährten in München. „Ich würde gerne in einem Chor singen oder regelmäßig mit einer Gruppe laufen.“ Aber noch ist sie nicht bereit, die Geschwindigkeit in ihrem Leben zu reduzieren. Zumindest nicht immer. Manchmal gelingt es ihr. Beim Baden in der Isar. Bei einem Espresso aus ihrer Siebträgermaschine. Auf einem Berggipfel. Das sind die Momente, in denen auch eine Verena Bentele gerne ein wenig ausgebremst wird.

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