Ein Bundespräsident zum Anfassen

von Redaktion

Bayern statt Berlin: Für drei Tage verlegt Steinmeier seinen Amtssitz in die Oberpfalz

Früh übt sich‘s: Auch die jüngsten Bürger Weidens kommen mit dem Staatsoberhaupt ins Gespräch.

Beim FC Weiden-Ost ist der Bundespräsident am Ball. Er trifft links oben.

Viel Trubel im Zentrum: In der Fußgängerzone wird der Bundespräsident von fast allen Passanten erkannt. © Hudelmaier

Eine Wurst auf die Hand: Beim Bratwurststandl Weishäupl gibt es eine extra Dunkle.

Die Kleinsten mit den ganz Großen: Steinmeier und Weidens Bürgermeister Jens Meyerer (SPD) mit der U9-Mannschaft vom FC Weiden-Ost. © Fotos (4): Daniel Karmann/dpa

Weiden – Elfmeter. Er legt den Ball hin, tritt ein wenig zurück und kickt mit seinem rechten Fuß und ordentlich Wumms dagegen. Gekonnt landet der Ball im Tor. Links oben. Jubel, vereinzeltes Klatschen. Eigentlich eine normale Szene in Zeiten der Fußball-EM in Deutschland. Doch statt Trikot und Stollenschuhe trägt der Torschütze Sakko und Anzugschuhe. Niemand Geringeres als der Bundespräsident, 68 Jahre, zeigt da gerade, was er am Ball kann. Der Rasen ist nicht der Grünstreifen vor dem Schloss Bellevue in Berlin, sondern das Spielfeld des Fußballvereins FC Weiden-Ost.

Frank-Walter Steinmeier – privat ein glühender FC-Schalke-04-Anhänger – plaudert gelassen mit Vereinsspielern. Den kleinsten von ihnen verrät er, dass nach dem letzten Spiel gegen die Schweiz Niclas Füllkrug zu seinen Lieblings-Nationalspielern gehört. Wie ein stolzer Spielervater steht er am Feldrand und lobt die U9-Mannschaft, während sie dann weiterkickt.

Das Staatsoberhaupt ganz nahbar: Das alles gehört zum Konzept. Seit seiner zweiten Amtszeit tourt Frank-Walter Steinmeier durch die Bundesrepublik, um mit den Bürgern persönlich in Kontakt zu treten. Es sind nicht nur Ortsbesuche, er verlegt gleich seinen ganzen Amtssitz. Mittlerweile das elfte Mal absolviert Steinmeier seine selbst ausgerufene „Ortszeit Deutschland“, erstmals in Bayern. Drei Tage lang führt er seine Geschäfte aus Weiden in der Oberpfalz.

Der neue Amtssitz ist ein schräges Dachzimmer im dritten Stock des Altstadthotels Bräuwirt. Die Suite 31 wurde kurzerhand mit einem Schreibtisch bestückt. Die Standarte aus Berlin – die Fahne mit dem Adler – macht es offiziell. Fünf Stifte liegen für Unterschriften parat. An diesem Dienstagnachmittag geht es um die Neubesetzung des deutschen Botschafters in Kanada. Ein bisschen Weltpolitik in Bayern.

Das Hauptprogramm der Ortszeiten ist so gut wie immer gleich strukturiert: ein Eintrag ins Goldene Buch der Stadt, Gespräche mit Kommunalpolitikern, durch die Straßen schlendern, etwas für die Region Typisches besichtigen und anschließend bei dem Format „Kaffeetafel kontrovers“ mit den Einheimischen über aktuelle Fragen diskutieren. Und dabei ganz viele Fotos machen lassen.

Der Bundespräsident bemüht sich um authentische Bilder

Auch heute lächelt Steinmeier geduldig in jede Linse, die ihm vors Gesicht gehalten wird. Trotz praller Sonne. Manchmal wischt er sich die Hitze mit einem Papiertaschentuch von der Stirn. Er winkt. Er schüttelt Hände. Er schaut in Kinderwagen. Und dann wieder ein Lächeln für die Kamera. Ein Jugendlicher fragt ihn, wie er Parteipolitik von seinem Amt als Bundespräsident trennen kann. „Das muss man ein bisschen im Blut haben“, antwortet Steinmeier selbstbewusst. Durch viele Jahre als Außenminister, damals für die SPD, falle es ihm nun leichter.

Der Spaziergang durch die Stadt soll möglichst natürlich rüberkommen. Läden, die Steinmeier besucht, werden nicht abgesperrt. Schnell noch eine Bratwurst auf die Hand, eine Extra-Dunkle. Der Bundespräsident zahlt aus eigener Tasche. Die Sicherheit aber ist eine Mammut-Aufgabe. Die Entourage aus Mitarbeitern, Sicherheitsleuten, Pressevertretern und Schaulustigen bahnt sich ihren Weg durch die Weidener Fußgängerzone. Eine Stadt im Ausnahmezustand. Fast alle erkennen den hohen Besuch, nicht alle haben mit ihm gerechnet.

Warum ist Steinmeier ausgerechnet in dieser 42 000-Einwohner-Stadt in der Oberpfalz, 35 Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, zu Gast? Er wolle ganz bewusst Regionen besuchen, die nicht jeden Tag Gegenstand der Berichterstattung sind, sagt er. Es gehe darum „gerade auch in die ländlichen Räume zu gehen“, „genauer hinzuhören“ und „zu gucken, ob die Prioritäten in der Politik da dieselben sind wie in den städtischen Ballungsräumen“. Und Weiden ist praktisch das Abziehbild einer kleinen Stadt mit vielen Herausforderungen.

Die Kassen der Stadt sind nicht gerade üppig gefüllt. Weiden sei wie Berlin, „arm, aber sexy“, scherzt Bürgermeister Jens Meyer (SPD). Die Arbeitslosenquote dort war lange Zeit die höchste der Region. Weiden ist geprägt von einem jahrzehntelangen Strukturwandel. Das örtliche produzierende Gewerbe wurde sukzessiv kleiner – erst die Textil-, dann die Porzellan- und Glasindustrie. Der Stolz der Stadt sind die zwei noch immer in Weiden ansässigen Porzellanfirmen. „Uns Weidener erkennt man auf der ganzen Welt“, sagt Meyer. „Egal wo wir sind, ob in der Wüste, in der Blockhütte oder auf dem Kreuzfahrtschiff – überall drehen wir die Teller um und sehen nach, ob sie aus Weiden kommen.“ Eine Kaffeetasse bekommt der Bundespräsident als Andenken überreicht – Seltmann-Porzellan aus Weiden natürlich. Die Menschen genießen das bundesweite Scheinwerferlicht.

Bei dem Besuch geht es aber auch um Steinmeiers Sichtbarkeit. Sein öffentliches Bild ist ausbaufähig. Erst im April irritierte er mit einem 60-Kilo-Döner als Gastgeschenk bei einem Staatsbesuch in der Türkei. Die repräsentative Rolle, das Staatsmännische lassen ihn manchmal trocken wirken.

Laut einer WDR-Umfrage von Mitte März sind nur 56 Prozent zufrieden mit Steinmeiers Arbeit. Das sind zwölf Prozentpunkte weniger als noch im November 2021. Die Menschen bemängeln eine zunehmende Distanz zwischen Politik und Bevölkerung. Solche Stimmen sind auch in Weiden zu hören. Nicht laut, nur im persönlichen Gespräch – etwa mit dem örtlichen Busfahrer.

In anderen Bundesländern dagegen ging es bei seinen letzten Besuchen nicht immer so gesittet zu. Ein raueres Klima herrschte in den kleinen, strukturschwachen Ost-Städten wie Altenburg, Freiberg oder Senftenberg. Die Corona-Pandemie verschlechterte die Stimmung im baden-württembergischen Rottweil. Bei diesen Ortszeiten war auch mal ein „Buh“ zu hören oder eine Gegendemonstration zu sehen. Dennoch ist es eine ganz bewusste Strategie, dass Steinmeier von seinen elf Amtssitz-Verlegungen sechsmal in Ostdeutschland war. Dagegen wirkt die Amtszeit in Bayern fast wie ein Wohlfühltermin.

Ganz sorglos sind die Weidener aber nicht. Es fehle an gesellschaftlicher Wertschätzung, berichten etwa Erziehungs-Fachkräfte bei einer gemeinsamen Gesprächsrunde am Mittwoch. Bei ihrer Arbeit gehe es nämlich nicht nur um einfache Betreuung, „Erzieher im Elementarbereich leisten auch Bildungsarbeit“, sagt Barbara Neuber von der Caritas-Fachakademie für Sozialpädagogik.

Politisch kann Steinmeier nicht viel umsetzen

Auch die Weltpolitik bewegt die Bürger. „Ich finde es sehr problematisch, dass wir seit zwei Jahren eigentlich nichts anderes tun, als über Waffen zu sprechen, wenn es um die Ukraine geht“, sagt Bertheide Nickl, Ärztin im Ruhestand. Geduldig hört der Bundespräsident zu. Dann warnt er davor, bei dem Wunsch nach Verhandlungen erst die Zeit seit dem 24. Februar 2022 zu betrachten. „In kein anderes Projekt ist so viel diplomatische Arbeit gesteckt worden, wie in den Versuch, die Eskalation nach der Annexion der Krim einzudämmen.“

Es sind Anregungen, Bitten und Kritiken, die in drei Tagen an Steinmeier herangetragen worden sind. Das alles nimmt er heute mit. Wenn die Eskorte schwarzer Limousinen ihren Weg zurück nach Berlin antritt, hallt eine Frage nach: Was passiert mit den Eindrücken aus Weiden? Die Macht für politische Entscheidungen hat der Bundespräsident nicht. Ihm bleibt nur übrig, thematische Schwerpunkte in seine Reden zu setzen. Und zuzuhören. LEONIE HUDELMAIER

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