Der erste G9-Jahrgang macht erst 2026 Abitur. Laurens (re.) und Nicolai vom Wittelsbacher-Gymnasium haben mit einem Jahr mehr Schule kein Problem. © dw
Nach 20 Jahren G8 ist nun Schluss in Bayern. Der nächste G9-Jahrgang macht erst 2026 Abitur. © Armin Weigel/dpa
München – Im Musikzimmer, einem saalähnlichen Raum des Wittelsbacher-Gymnasiums in München, sitzen gut ein Dutzend Schüler und hören, was der Ministerpräsident ihnen über die neuen Verfassungsviertelstunden an den Schulen erzählt. „Wir wollen Demokratie erlebbarer machen“, sagt Söder. Es folgen ein paar Anmerkungen zu Hasskommentaren im Netz und der Ratschlag an die Schüler, sich nicht „berieseln“ zu lassen. Sie sollen selber den Kopf einschalten. Die Schüler, die das hören, sind mit die Ersten, die die neue Verfassungsviertelstunde schon umsetzen. Es gibt aber noch eine Besonderheit: Die Schüler sind Elftklässler, gehören der Oberstufe Q11 an und damit dem ersten G9-Jahrgang. Er macht erst 2026 sein Abitur. Die letzten G8-Schüler indes haben in den vergangenen Monaten ihre Abiturprüfungen absolviert und die Schule jetzt verlassen. Dazwischen klafft eine Lücke – 2025 wird es keinen regulären Abiturjahrgang geben. Was hat das für Folgen – für die Wirtschaft, für die Universitäten?
Für die G9-Schüler vom Wittelsbacher-Gymnasium ist die Verlängerung der Schulzeit um ein Jahr kein Problem. Viele nutzen das Zusatzjahr, didaktisch in der elften Jahrgangsstufe angesiedelt, für Auslandsaufenthalte. „Ich war im Ausland, auf der Isle of Man“, erzählt Laurens (17). Jetzt rücke er auf Probe vor. „Nach dem Abi werde ich wohl trotzdem noch ein Jahr Auszeit machen, danach studieren.“ Nicolai (16) sagt, er habe die Zeit bis Weihnachten in Schottland verbracht, im Internat mit Schuluniform. Strenge Sitten – jetzt ist er froh, dass er keinen Druck hat, alles schnell nachholen zu müssen. Zum Schulstart im Januar gewährte ihm das heimische Gymnasium eine dreiwöchige notenfreie Schonfrist, erst dann ging es mit Schulaufgaben und Examen wieder los.
Laurens und Nicolai sind zwei von circa 34 000 Gymnasiasten ihres Jahrgangs in Bayern. So viele Schüler machen in Bayern in der Regel Jahr für Jahr ihr Abitur. Im nächsten Jahr ist das anders. Die Zahl der Abiturienten dürfte auf rund 5000 Schülerinnen und Schüler sinken, rechnet das Kultusministerium vor. Dabei handelt es sich zum einen schlicht um Sitzenbleiber – G8-Schüler, die das Abitur nicht geschafft haben und nun den Jahrgang wiederholen. Nur mit Glück können sie das in ihrer alten Schule tun. Sie müssen in eines der rund 100 Gymnasien, die das vom Ministerium sogenannte „Auffangnetz“ bilden und dabei einen gesonderten Oberstufen-Jahrgang anbieten. Ihn besuchen – zweitens – schon die Schüler der „Mittelstufe plus“, also G9-Schüler, die ein Jahr überspringen und daher ein Jahr früher, eben im Frühjahr 2025, ihr Abitur machen. Der Weg zu den Auffangschulen ist mitunter weit: Im Landkreis Miesbach etwa gibt es nur eine – in der Kreisstadt selbst; im Würmtal keine – Sitzenbleiber müssen nach Germering pendeln.
Betriebe und Unternehmen dürften um diese wenigen Gymnasial-Abgänger buhlen, könnte man meinen. Zumindest an den Unis ist die Lage aber entspannt, wie Sprecher Ulrich Meyer von der TU München sagt. Im Schnitt nur 40 Prozent der Erstsemestler an der TU stammen nämlich aus Bayern, die Mehrzahl hingegen aus anderen Bundesländern oder aus dem Ausland. Daher wird zum Wintersemester 2025/26 nur ein leichter Rückgang bei den Anmeldezahlen erwartet – 20 Prozent. In absoluten Zahlen ausgedrückt: Während es im jüngsten Wintersemester 2023/24 rund 7400 Erstsemestler gab, könnte diese Zahl im Herbst 2025 auf 6000 sinken. 1400 Studenten weniger bei einer großen Uni wie der TU mit über 52000 Studierenden – das ist verkraftbar, meint Meyer. „Im Moment“ sei nicht zu befürchten, dass dadurch auch nur ein Studiengang entfallen müsse. Umgekehrt könnte es sich aber für manchen der letzten G8-Schüler lohnen, mit dem Beginn des Studiums ein Jahr zu warten und erst 2025 statt schon im September 2024 zu beginnen. Alles ist dann nicht ganz so voll wie sonst. Die Seminarräume, die Erstsemester-Veranstaltungen, die Einführungs-Vorlesungen.
Mehr Grund zur Sorge hat die bayerische Wirtschaft. Abiturienten studieren doch eh, könnte man meinen. Doch dass im kommenden Jahr fast ein kompletter Abiturjahrgang fehlt, „wird einen Effekt auf den Ausbildungsmarkt haben und den ohnehin schon bestehenden Azubi-Mangel zweifellos verschärfen“, sagt Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, gegenüber unserer Zeitung. Die Unternehmen suchen schon jetzt „händeringend“ Azubis und werden auch an den Gymnasien fündig. Die Sparkassen etwa nehmen traditionell gerne Gymnasiasten statt Realschüler. Immerhin 16 Prozent der Ausbildungsstellen in bayerischen Unternehmen werden von Schulabgängern mit Hochschulzugangsberechtigung besetzt. 25 Prozent kommen dabei von den Fachoberschulen, 75 Prozent indes von den Gymnasien. Das waren zuletzt 13000 Personen. Nicht alle gehen frisch von der Schulbank als Azubi in den Betrieb, manche gönnen sich eine Auszeit, sodass auch ältere Jahrgänge 2025 die Lücke etwas abmildern könnten. Klar aber ist, so Brossardt: „Die Delle bei der Zahl abgeschlossener Ausbildungsverträge durch das neue G9 kann auch durch die Besetzung der Stellen mit Absolventen aus den anderen Schularten nicht komplett ausgeglichen werden.“
G8 immerhin ist jetzt Geschichte. Große Trauer herrscht nirgendwo, dass diese Variante des Gymnasiums jetzt abgeschafft ist. Im Gegenteil, sagt Schulleiter Helmut Martin vom Wittelsbacher-Gymnasium: „Die Lehrer haben die Rückkehr zum G9 allgemein begrüßt.“ Die Bilanz in Zahlen: Insgesamt 14 Jahrgänge haben ein G8-Abitur gemacht, knapp 500 000 Schülerinnen und Schüler in Bayern.
So erbittert früher über das Gymnasium gestritten wurde, so ruhig ist es heute. Die neue G9-Oberstufe mit einem Leistungsfach, das stark an den früheren Leistungskurs im alten G9 erinnert, ging ohne politischen Streit über die Bühne. Der Vater des G9, Ministerpräsident Horst Seehofer, ist längst in Pension. Sein damaliger Finanzminister Markus Söder hat die Umstellung – sie kostet geschätzt 5000 Lehrerstellen – ohne Murren finanziell abgefedert. An der Einführung des G8 war Söder ja auch schuldlos. Als Edmund Stoiber im November 2003 quasi über Nacht die Verkürzung zum G8 befahl, war der junge Söder gerade erst zum CSU-Generalsekretär ernannt worden. Widerworte zur Hauruck-Aktion sind von ihm freilich nicht überliefert.