Philippos T. (20) starb nach der Attacke. © ZDF/hallo Deutschl.
Nach dem Messer-Mord an einem Polizisten vor zwei Wochen in Mannheim: ein Trauermarsch für den Kollegen. © Anspach/dpa
Unsere Gesprächspartnerin Beate Ehrt ist Präsidentin des Amtsgerichts München. © Marcus Schlaf
Trauer, Verzweiflung, Ratlosigkeit: Blumen und Kerzen vor dem Tatort im Kurpark von Bad Oeynhausen. Hier wurde ein 20-Jähriger getötet. Wieder ein Fall von extremer Jugendgewalt, Täter war wohl ein 18-jähriger Syrer. © Sandra Knauthe/TNN/dpa
Seit sechs Jahren ist Beate Ehrt die Präsidentin des Amtsgerichts München. Ihre Karriere begann die 57-Jährige als Richterin in Nürnberg. Anschließend wechselte sie zur Staatsanwaltschaft. Danach ging sie ins Justizministerium, leitete die Kommunikation unter anderem unter Ministerin Beate Merk, auch ihr Büro, bevor sie im Februar 2018 als erste Frau die Leitung des größten bayerischen Amtsgerichts übertragen bekam. Wir sprechen mit Ehrt nun über die steigende Jugendkriminalität und die Verrohung. Viele dieser Fälle landen an Bayerns Amtsgerichten, begleitet von Forderungen aus Politik und Öffentlichkeit nach härteren Strafen. Was hält eine erfahrene Richterin davon?
Die Gewaltkriminalität unter Jugendlichen steigt, sagt die Polizei. Wie stark spüren Sie das an Bayerns größtem Amtsgericht?
Die Jugendkriminalität steigt seit drei Jahren, in der Summe moderat. Bei der Gewaltkriminalität ist der Anstieg aber signifikant. Und da geht es um schwere Delikte: Raub, räuberische Erpressung, Taten aus der Gruppe heraus. Unsere Jugendrichter haben immer häufiger mit mehreren Tätern auf der Anklagebank und umfangreicheren Prozessen zu tun. Das hatten wir früher so nicht.
Was die Menschen immer mehr beunruhigt: Messerkriminalität. Wie lange reden wir da noch von „Einzelfällen“?
Ja, wir haben auch immer mehr mit Delikten, bei denen Messer eingesetzt werden, zu tun. Diese Art der Straftaten spiegelt eine gefährliche Verrohung in Teilen der Gesellschaft wider, das sind nicht mehr einmalige Ausnahmen. Ich will es mir da nicht leicht machen: Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig.
Benennen wir doch eine mal klar: Migration. Es gibt doch einen statistischen Zusammenhang zwischen solchen Delikten und Migrationshintergrund?
Man muss da vorsichtig sein. Die Zahl der Beschuldigten mit Migrationshintergrund steigt, die Gesamtzahl der Migranten insgesamt aber auch. Da sehe ich keine große Verschiebung gegenüber Beschuldigten mit deutschem Pass.
Wissen Sie spontan: Welches Messer darf ich mitführen, welches nicht?
Das ist im Waffengesetz klar geregelt. Man darf beispielsweise kein Messer bei sich tragen mit einer Klingenlänge über zwölf Zentimeter; keines, bei dem mit einem Handgriff die Klinge festgestellt werden kann, sogenannte Einhandmesser. Auch sind bestimmte Typen wie zum Beispiel Butterfly-Messer verboten.
Wenn es einen Fall gibt, heißt es von der Politik sofort: Jetzt aber schnelle, harte Urteile! Kann die Justiz das leisten oder macht sich die Politik da einen schlanken Fuß?
Wir machen viel gut als Justiz in Bayern. Komplett richtig ist, gerade im Jugendstrafrecht: Strafe muss auf dem Fuß folgen. Gegenfrage: Wann empfinden Sie ein Urteil in Jugendsachen als „schnell“?
Hm. Höchstens zwei, drei Monate nach der Tat wäre gut.
Ich gebe Ihnen die Zahlen: Wir erledigen im Schnitt in München Jugendbußgeldverfahren in 2,3 Monaten, Jugendrichterverfahren in 2,6 Monaten, Verfahren vor dem Jugendschöffengericht in 2,9 Monaten. Das ist schnell, und das ist unser Anspruch. Wenn die Verfahren nun aufwendiger werden, wollen wir diese Zahlen halten, indem wir aus anderen Abteilungen umschichten; zum Glück sinkt die Zahl der Zivilsachen bei uns am Amtsgericht deutlich.
Sie urteilen selbst auch noch als Präsidentin?
Ja. Als Präsidentin bin ich gleichzeitig auch Richterin und leite Verfahren.
Nervt Sie als Richterin dann, wenn aus der Politik die Forderung nach „härteren Strafen“ kommt?
Nein. Weil ich meine Richter kenne: Die haben das Selbstverständnis, nach ihrer Wahrnehmung und Erfahrung ein Urteil zu sprechen. Sie sind da doch zu selbstbewusst, um genervt zu sein. Im Übrigen differenziert die Mehrheit der Bürger schon genau, ob es um Erwachsene oder Jugendliche geht, um Erst- oder um Intensivtäter, um eine verunglückte Mutprobe oder um ein Rohheitsdelikt.
Funktioniert die Abschreckung durch Strafe noch, das Stoppen von kriminellen Biografien?
Es geht natürlich um Abschreckung, aber auch um Erziehung und Prävention. Also nicht nur um Strafen, sondern auch um niederschwellige Maßnahmen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine einfache Körperverletzung, ein Mädchen schlägt bei einer Party ein anderes ins Gesicht. Ein Anti-Gewalt-Training, eine Konfliktlösungstherapie, wirkt dann auf Dauer viel besser als eine vermeintlich harte Strafe, gerade im Jugendalter.
Wenn die Zahlen so steigen: Können dann solche Angebote überhaupt noch mithalten?
Ich höre leider: In vielen Fällen nicht mehr. Die Einrichtungen und Träger solcher Angebote sind seit der Pandemie oft schon überlastet mit Jugendlichen, die zu Hause nicht mehr die nötige Unterstützung bekommen.
Ist da einiges dauerhaft schiefgelaufen in den Corona-Jahren, oder ist das nur Gejammer?
Viele junge Leute waren allein, nicht alle hatten einen Familienverband, der sie aufgefangen hat. Eine gute Gruppe, in der es Regeln, Werte, Vorbilder gibt – Familie, Schulklasse, Fußballverein –, sozialisiert eben. Es ist immer leicht, im Nachhinein schlaue Ratschläge zu geben. Wir alle waren von der Pandemie-Situation komplett überrascht. In der Summe ist das beeindruckend gut gehandhabt worden, von uns allen miteinander. Es wurden so Leben gerettet. Trotzdem können wir rückblickend aus dieser Krise lernen.
Zurück ans Gericht: Täter sind heute immer jünger. Müssen wir runter mit dem Strafmündigkeitsalter? Wenn wir ja auch das Wahlalter auf EU-Ebene schon auf 16 gesenkt haben?
Das sind zwei unterschiedliche Fragen. Ich finde es gut, dass wir das Wahlalter für die Europawahl gesenkt haben. Schauen Sie doch mal, für welche Dinge junge Menschen sich heute einsetzen, auf die Straße gehen. Das Strafmündigkeitsalter setzt anders an: In welchem Alter kann ein junger Mensch absehen, was Recht und was Unrecht ist? Was bewirkt das Unrecht und welche Folgen hat eine Tat?
Das heißt: Finger weg vom Strafmündigkeitsalter?
Man muss das prüfen, in Ruhe darüber beraten, aber nicht direkt nach spektakulären Einzelfällen mit vorschnellen Lösungen kommen. Die meisten europäischen Länder haben so wie wir die Altersgrenze von 14 Jahren. Die Schweiz hat ein System aus einer Grenze von zehn Jahren, kombiniert mit einem angepassten Strafmaß. Es steht der Schutzgedanke und Erziehungsauftrag auch für diese jungen Straftäter im Mittelpunkt. Das scheint dort gut zu funktionieren.
Haben Sie das Gefühl, dass die Justiz zu einer Art Reparaturwerkstatt geworden ist für Versäumnisse der Politik, der Schulen, der Eltern?
Gute Frage. Guter Begriff von der „Reparaturwerkstatt“. Justizpolitik ist Gesellschaftspolitik. Wenn irgendwas in der Gesellschaft schiefläuft, kommt es recht bald auf unsere Schreibtische. Je mehr Werte das Elternhaus und Bildungseinrichtungen vermitteln, je länger unser Staatsverständnis junge Menschen prägt, umso besser funktioniert eine Gesellschaft.
Zugespitzt gefragt: Verschärft ein Übermaß an Zuwanderung solche Problemlagen?
Es ist eine Herausforderung, mehrere Kulturen unter einem Dach zu vereinen. Das kann niemand bestreiten. Wir haben auch herausragende positive Beispiele. Das A und O dabei ist übrigens immer das Beherrschen der deutschen Sprache. Voraussetzung für Konfliktlösung und Integration ist: Ich muss mich auseinandersetzen können in der Sprache des Landes, in dem ich lebe. Wo immer das abgelehnt wird, haben wir ein Problem.