Die vielen Baustellen der Deutschen Bahn

von Redaktion

Heiko Büttner, Chef der Münchner S-Bahn, ist wegen der vielen Langsamfahrstellen oft in Erklärungsnot. © dpa

Die Eisenbahnbrücke an der Münchner Lindwurmstraße ist über 100 Jahre alt, die Arbeiten werden bis 2028 dauern. © IMAGO

Vor allem während der Fußball-EM sind viele Züge überfüllt. In ausländischen Medien wie der „New York Times“ wird über die vielen Verspätungen bei der Deutschen Bahn gespottet. © Andreas Arnold/dpa

München – Laptop, Wasserglas, Powerpoint – mehr braucht es nicht, um ein Milliardenprojekt zu verkünden. An einem Freitag im Juni sitzt Gerd Matschke, bei der Deutschen Bahn zuständig für Großprojekte in Südbayern, in einem schmucklosen Veranstaltungsraum eines Augsburger Tagungszentrums und skizziert seine Vision. Die Bahn plant zwischen Augsburg und Ulm eine Neubaustrecke. Matschke nimmt einen Schluck Wasser und gerät ins Schwärmen. Augsburg und Ulm werde künftig „fast eine S-Bahn-Relation“ sein. Es ist ein schönes, wenngleich reichlich fernes Versprechen. Die Strecke dürfte Ende der 2030er-Jahren fertig werden. So wie auch die 2. S-Bahn-Stammstrecke in München. Oder der zweigleisige Ausbau der Strecke München–Mühldorf. Und der Brenner-Zulauf durchs Rosenheimer Inntal. Alles unendlich weit weg.

Bahn ist „im Oasch“, singen die Fans

Schöne Visionen also, aber eine schnöde Wirklichkeit. Immer noch gilt Deutschland als Inbegriff von Ordnung und Zuverlässigkeit. Die Zustände der DB passen da nicht ins Bild, wie jetzt bei der EM Fußball-Fans und kürzlich auch die „New York Times“ irritiert feststellten: „Setzen Sie sich in einen DB-Wagen, wenn eine Verspätung angekündigt wird, und achten Sie auf die Blicke, die die Deutschen austauschen, und darauf, wie sie mit den Augen rollen.“ Die „SZ“ kommentierte, die Deutsche Bahn sei der wahre „Angst-Gegner“ der Deutschen. Auf der Plattform X machte die Geschichte eines österreichischen Fußball-Reporters die Runde, der zum Spiel nach Düsseldorf wollte, aber in Passau strandete: Streckensperrung. Danach berichtete der Reporter quasi live, wie er nur etappenweise weiterkam: Regensburg, Frankfurt, Köln. In Hanau wurde er abgeführt, weil er die Zugtür für gestrandete Fans offen gehalten hatte. „Die Deutsche Bahn ist so im Oasch“, skandierten Österreicher in einem anderen Zug. Das geht auf Youtube viral.

Jeder kennt die Geschichten: verspätetes Personal aus vorheriger Fahrt. Signalstörung. Personen im Gleis. Müsste die Bahn nicht ihre aktuellen Probleme angehen, statt Visionen zu verkünden? Ein Anruf bei Heino Seeger im Achental/Tirol. Seeger ist ein Eisenbahner der alten Schule. Er war früher Chef der Bayerischen Regiobahn, die damals im Oberland BOB hieß. Seeger hat sich in den „Infrastrukturzustands- und -entwicklungsbericht“ für 2023 vertieft, den IZB-Bericht, veröffentlicht von der DB im April 2024. Wer wissen will, wie es um die Bahn wirklich steht, der findet nichts Besseres. Jede Störungsminute, jeder Zwischenfall ist auf 238 Seiten dokumentiert. „Da sitzen Völkerstämme dran“, lästert Seeger.

Gleisstörungen über Wochen

164448 Störungen gab es im Netz der Deutschen Bahn im vergangenen Jahr. Dabei muss man differenzieren. Die Zahl der Störungen der Leit- und Sicherungstechnik nimmt ab – denn die Bahn hat das Technikproblem erkannt. Stellwerke werden modernisiert (im Sommer 2025 endlich auch das neue Stellwerk München-Ost), Signale ausgetauscht. Dafür hakt es an anderer Stelle: Die Zahl der Gleisstörungen nimmt zu. 2019 gab es 3652, im Jahr 2023 mit 7312 schon mehr als doppelt so viele. Das Problem ist, dass die Reparatur von Gleisstörungen länger dauert als die von Signalen. Bei Gleisstörungen muss ein Gleis gesperrt werden, ein Bautrupp anrücken, es gibt Nacht- und Ruhezeiten zu beachten. Oft dauert das Wochen.

Ein Kapitel für sich sind bei den Gleisstörungen die Langsamfahrstellen, also Tempolimits. Sie machen ein Viertel aller Gleisstörungen aus. Jeder Lokführer kennt den LA-Bericht – LA steht für Langsamfahrstellen.

Allein im süddeutschen Raum umfasst der Bericht, der täglich neu herauskommt, um die 170 Seiten. Ein Beispiel: Die S4 zwischen Buchenau und Fürstenfeldbruck. Wegen eines abrutschenden Hangs gilt dort über 400 Meter nur Tempo 40. Alle S-Bahnen, aber auch die Regionalzüge, müssen abbremsen. Schleichfahrt im High-Tech-Land Oberbayern. Im IZB-Bericht werden die Mängel schonungslos offengelegt. Trotz aller Bemühungen wird die Infrastruktur, vor allem Gleise und Brücken, immer älter. Das durchschnittliche Alter der Gleise ist 2023 um im Schnitt 0,3 Jahre gestiegen – auf jetzt 21,1 Jahre. Zwar werde viel investiert, heißt es im Bericht. „Die Erneuerungsmengen für den Einsatz technisch abgängiger Gleise sind jedoch zu gering, um die steigende Alterung der Gleise vollständig auszubremsen.“

Der Anstieg der Baupreise hat der Bahn zugesetzt. Konnten 2018 für gut eine Milliarde Euro 1500 Kilometer Gleise erneuert werden, so waren es 2023 für fast 2,3 Milliarden Euro nur 2270 Kilometer Gleis. Anders ausgedrückt: Die Sanierung von einem Kilometer Gleis kostete 2018 rund 700000 Euro, 2023 fast eine Million Euro. Wahr ist: Es wird mehr Geld denn je in die Instandsetzung gesteckt, die Ampel-Bundesregierung überwies der DB allein dafür 2023 fast acht Milliarden Euro, mehr als jede Regierung zuvor – für Schallschutzwände, Weichen, Bahnstromanlagen und eben die Gleise. Ein Teil dieser steigenden Mittel wird aber durch die Inflation aufgefressen.

Womöglich bringt nun die Sanierung wichtiger sogenannter Hochleistungskorridore den notwendigen „Turn-around“. Am 15. Juli geht es los: Die Riedbahn Mannheim–Frankfurt wird fünf Monate komplett gesperrt, 70 Kilometer neu gebaut. Allein das kostet 1,3 Milliarden Euro. Bis 2030 folgen weitere 39 Korridorstrecken, auch in Bayern, wie etwa München–Salzburg oder Regensburg–Passau. Es kostet zig Milliarden und dauert Jahre, bis mindestens 2030.

Brücken der Bahn 76 Jahre im Schnitt

Und es werden so insgesamt „nur“ 4000 Kilometer Strecke saniert, im Schnitt also gut 700 Kilometer pro Jahr. In der Gesamtbilanz dürfte das die Schienenalterung nur wenig bremsen, wenn nicht auch in der Peripherie weiter saniert wird. Es muss also noch mehr Geld in die Sanierung fließen.

Eigentlich müsste man die Deutsche Bahn loben und preisen. Jeden Tag aufs Neue. Sie ist das demokratischste Verkehrsmittel, das es gibt. Jeder kann fahren, alt, jung, reich, arm. Es ist der Melting pot der Republik – alle Gesellschaftsschichten treffen hier aufeinander. Und das Deutschlandticket ermöglicht günstige Mobilität – erstmals billiger als das Auto. Aber es gibt so viel zu reparieren. Auch das Kapitel über die Bahnbrücken liest sich deprimierend. Die Bahn muss sich um 25 740 Brücken kümmern. Lag das Alter 2018 im Schnitt noch bei 72,5 Jahre, so sind es 2023 schon 75,9 Jahre. Der Anteil der Brücken in der kritischen Kategorie vier („wirtschaftliche Instandsetzung nicht mehr möglich“) beträgt jetzt 4,5 Prozent. Das sind 1158 Brücken!

Und gleich noch eine Misere: der Güterverkehr. Vorstandschefin Sigrid Nikutta (Jahresgehalt laut Bilanz: 735000 Euro) ist auf dem Karriere-Portal LinkedIn mit über 85000 Followern gut vernetzt. Kaum ein Tag vergeht ohne eine Nikutta-Botschaft, die meist strahlenden Optimismus („Zukunftsfragen sind meine Lieblingsfragen“) versprüht. Die Gegenwart ist allerdings alles andere als rosig: 2023 fuhren durch Deutschland täglich 2267 Züge von DB Cargo, 365 weniger als im Coronajahr 2022. Die Tonnage beförderter Güter zeigt eine Langzeitkrise: Während DB Cargo 2014 noch 330 Millionen Tonnen beförderte, waren es 2023 nur noch 198 Millionen Tonnen – ein Rückgang um 40 Prozent! Jetzt soll DB Cargo zerschlagen werden. Die Gewerkschaft EVG hat massiven Widerstand angekündigt.

Streiks im Güterverkehr? Das fehlte noch. Die Fahrgäste dürfte aber etwas anderes mehr interessieren: Die Bahn wird, was angesichts der Gleismisere nicht erstaunt, immer unpünktlicher. 2023 waren nur noch 64 Prozent der Fernzüge der DB, im Wesentlichen also die ICE-Flotte, pünktlich. Im Jahr zuvor waren es noch geringfügig mehr, 65,2 Prozent. Bis 2028, so hat DB-Chef Richard Lutz verkündet, soll die Pünktlichkeit wieder auf 80 Prozent steigen. Was er nicht sagt: Dieser Wert war bei der Bahn früher der Normalfall. 2016 erreichte die Pünktlichkeit im Fernverkehr 78,9 Prozent, 2019 (also vor der Corona-Krise) noch 75,9 Prozent. Und dieser Wert wurde erreicht, obwohl damals weit mehr Fahrgäste befördert wurden als heute – 151 Millionen Reisende im ICE gab es 2019, im vergangenen Jahr waren es nur 140 Millionen. An Verzögerungen durch den Fahrgastwechsel, eine öfter zu hörende Ausrede, kann es also nicht liegen.

Mitarbeiter aus 100 Nationen

Die Deutsche Bahn, laut Statista.de nach VW, Post, Bosch und Edeka gemessen an Beschäftigten der fünftgrößte privatwirtschaftliche Arbeitgeber, liebt Zahlen. Alles, Positives wie Negatives, wird analysiert und prozentual aufbereitet. Kurzschlüsse durch Vögel: 3000 im Jahr. Videokameras an Bahnhöfen: 11000. Verbrauch von Pflanzenschutzmitteln: 21,4 Tonnen jährlich. Auch bei der Diversity glänzt der Konzern: Die knapp 300000 Mitarbeiter (die Bahn schreibt gerne Mitarbeiter:innen) kommen aus über 100 Nationen. Und: „Die Unternehmensbekleidung kann nun unabhängig vom biologischen Geschlecht oder von der geschlechtlichen Identität bestellt werden“, heißt es in der Jahresbilanz.

Indes gebietet der Münchner S-Bahn-Chef Heiko Büttner, Herrscher über 289 Züge, über keinen einzigen Meter Schiene. Für die Beseitigung jeder Langsamfahrstelle, die den S-Bahn-Verkehr tagtäglich bremsen, muss die DB-Tochter InfraGo in Marsch gesetzt werden – was dauert. Legendär ist mittlerweile der Humor mancher S-Bahn-Lokführer. „Liebe Fahrgäste, wir haben Laim erreicht und damit das Ende unserer Pünktlichkeit“, sagte neulich einer. Ein anderer, offenbar neu im Betrieb, entschuldigte sich für drei Minuten Verspätung. Gelächter im Zug.

Mit Nostalgie in der Stimme erinnert sich Heino Seeger, der einstige BOB-Chef, an die früheren Bundesbahn-Direktionen mit ihren Bahnmeistereien, die die Strecke in Schuss hielten. Alles abgeschafft. Dieser „Webfehler“ der Bahnreform in den 1990er-Jahren räche sich nun, meint Seeger. Die Deutsche Bahn ist heute ein zentralistischer, von oben gesteuerter Konzern.

Neue Strecke – schon wieder demoliert

Ein letztes Beispiel: Das Unwetter Anfang Juni hat bei Kitzingen die zweigleisige Hauptstrecke Nürnberg–Würzburg demoliert. Sie war erst 2023 umfangreich saniert worden. Jetzt ist sie schon wieder kaputt. Klimaresistentes Bauen? Für die Bahn offenbar noch Neuland. Die Schäden sind immens, wie eine Anfrage des Fachjournals „Lok-Report“ ergab: Der Bahndamm, der ins Rutschen geriet, muss durch Betonstützen gesichert, Signalfundamente und sogar das Gleisbett neu gebaut werden.

Erst Ende September sollen beide Gleise wieder befahrbar sein, sagt eine Bahnsprecherin.

Als wenn das alles nichts wäre, hält DB-Chef Lutz an ehrgeizigen Wachstumszielen fest. Er folgt einer Ansage der Politik, der er eigentlich widersprechen müsste. Im Koalitionsvertrag der Ampel, Seite 39, heißt es, man werde „die Verkehrsleistungen im Personenverkehr“ bis 2030 „verdoppeln“. Das wären, gemessen am Vor-Corona-Jahr 2019, 300 Millionen Fahrgäste im ICE. Heute sind es 140 Millionen. „Wie soll das gehen?“, fragt sich (nicht nur) Heino Seeger.

Es scheint so, als zweifelten selbst die eigenen Mitarbeiter am Erfolg ihres Unternehmens. Die Bahn hat 12000 Mitarbeiter befragt. Ernüchterndes Ergebnis: Es fehle „Zukunftsoptimismus“, klagt der Bilanzbericht. „Unsere Strategie ,Starke Schiene‘ kommt nicht bei allen Beschäftigten an, und Erfolge müssen noch spürbarer werden.“

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