Schnell ohne zu bezahlen ins Täschchen: Die Zahl der Ladendiebstähle steigt wieder. © Foto: Felix Kästle/Picture alliance
München – Spricht man von Ladendiebstahl, dann spricht man vor allem von einer hohen Dunkelziffer. Dem Handelsforschungsinstitut EHI zufolge, das die Aktivitäten der Langfinger im vergangenen Jahr analysiert hat, werden gerade mal zwei Prozent aller Diebstähle in Deutschlands Handel zur Anzeige gebracht. Rund 426 000 Fälle waren es im vergangenen Jahr – 23,6 Prozent mehr als 2022. Die Inventuren offenbaren dann, was wirklich alles abhandengekommen ist. Und das ist viel: Waren im Wert von rund 2,8 Milliarden Euro wurden von Kunden aus den Läden geklaut. Allein in Bayern liegt der Schaden bei 360 Millionen Euro. Dazu kommen deutschlandweit rund zwei Milliarden Euro Schaden durch diebische Mitarbeiter, Zulieferer oder organisatorische Mängel wie falsche Preisauszeichnungen. Macht insgesamt 4,8 Milliarden Euro.
Profidiebe bringen „Einkaufslisten“ mit
Diebische Kunden sind kein neues Phänomen. Beim sogenannten einfachen Ladendiebstahl war die Situation sogar schon viel schlimmer (siehe Grafik). Trotzdem ist der Anstieg in den vergangenen beiden Jahren nach der coronabedingten Delle auffällig. EHI-Experte Frank Horst sagt: „Durch die Preissteigerungen sind einige Menschen in finanzielle Nöte geraten und haben häufiger geklaut.“ Sechs von zehn Tatverdächtigen waren Männer, der Anteil der Nichtdeutschen lag der Studie zufolge mit 46,4 Prozent fast viermal so hoch wie der Bevölkerungsanteil. Der Schaden pro Tat: im Schnitt 96 Euro. In sechs von zehn Fällen handelte es sich um Wiederholungstäter.
Größere Sorgen bereitet dem Handel der schwere Ladendiebstahl. Ein solcher liegt dann vor, wenn Schutzvorrichtungen wie Schlösser, Vitrinen oder Warensicherungen mit krimineller Energie geknackt werden, um an hochpreisige Waren zu kommen. „Bei einem Drittel der Taten handelt es sich um Bandenkriminalität“, erklärt das EHI. „Die Täter gehen dabei häufig mit einer gezielten Aufgabenverteilung vor: Verkaufspersonal beobachten oder ablenken, Diebesgut in ,Depots‘ zusammenstellen, abgreifen, einstecken, Ware aus dem Geschäft tragen und Fluchtweg sichern.“ Häufig hätten die Banden regelrechte Einkaufslisten dabei, nach denen dann absortiert wird.
Auch Mohsen Nik, Chef der Münchner Sicherheitsfirma Nik Security (siehe Artikel unten), bestätigt: „Die Tendenz geht in Richtung organisierte Kriminalität.“ Viele Ladendiebe hätten das passende Werkzeug gleich mit dabei, etwa um Sicherungen an den Waren zu entfernen. „Zudem sehen sie oft top gepflegt aus, haben teure Klamotten an – und man kommt nicht auf die Idee, dass die klauen könnten.“ Zwar ist die Zahl der angezeigten schweren Ladendiebstähle deutlich geringer als die der einfachen, aber sie nimmt immer weiter zu. 1997 waren es noch 7389 Fälle, 2023 bereits 27 452. Und der Schaden ist deutlich höher. Bei organisierten Gruppen beträgt er laut EHI 1000 bis 2000 Euro pro Tat.
Auch dem Staat entgehen Einnahmen
Bei den Banden handelt es sich laut Bundeskriminalamt teils um straff organisierte Täter aus Georgien und dem Balkan, aber auch aus unseren Nachbarländern. Deutsche Banden sind ebenfalls unterwegs, der Ausländeranteil ist mit 70,4 Prozent aber extrem hoch. Knapp 83 Prozent sind Wiederholungstäter.
Zu den bei Ladendieben besonders beliebten Warengruppen in Supermärkten und Discountern zählen Spirituosen, Tabakwaren, Kosmetikprodukte, Rasierklingen, Energydrinks sowie Babynahrung und Kaffee. Fleisch, Wurst und Käse werden von den Befragten ebenfalls häufiger genannt. Gern eingesteckt werden zudem hochwertige Markenbekleidung und Sportschuhe, Elektrogeräte, Elektroartikel und Elektrozubehör. Bei jedem vierten Diebstahl sind laut der Studie Profis am Werk.
„Es ist ein Wendepunkt erreicht, an dem die Zunahme der Ladendiebstähle eine besondere Dimension annimmt und besondere Aufmerksamkeit erfordert“, sagt Studienautor Frank Horst. Jeder 200. Einkaufswagen passiere derzeit unbezahlt die Kasse. Auch dem deutschen Staat entsteht dadurch ein Schaden. So entgehen ihm Umsatzsteuereinnahmen in Höhe von rund 560 Millionen Euro.
Ladendiebe fühlen sich immer sicherer
Der Handel selbst sieht ebenfalls Handlungsbedarf. „Wir haben Märkte, bei denen es einen Anstieg der Inventurdifferenzen gibt, aber auch sehr viele, die stabil sind“, sagte Rewe-Chef Lionel Souque. Die Supermarktkette hat nach eigenen Angaben verschiedene Maßnahmen ergriffen. „Vor zehn Jahren haben wir bei Rewe alle Eingänge geöffnet und Schleusen entfernt, sodass Kunden direkt reingehen können. Das haben wir in einzelnen Märkten zurückgebaut“, so Souque. An einigen Standorten gebe es mehr Sicherheitspersonal und Detektive. Auch andere Unternehmen sind wachsam. „Wir sehen bei Ikea Deutschland ebenfalls eine veränderte Situation“, sagt eine Sprecherin des Möbelhändlers. Man arbeite eng mit den Ermittlungsbehörden zusammen, um Diebstähle zu verhindern und aufzuklären. Für viele Konzerne ist Ladendiebstahl aber weiter ein Tabuthema. Aldi Nord, Edeka und Lidl wollten auf Nachfrage keine näheren Angaben machen.
Viele Unternehmen haben ihre Kameraüberwachung ausgebaut und ihr Personal geschult, wie aus der EHI-Studie hervorgeht. Die Ausgaben für Präventionsmaßnahmen im Einzelhandel in Deutschland sind 2023 auf 1,55 Milliarden Euro gestiegen, die gesamten Kosten für Inventurdifferenzen und deren Vermeidung belaufen sich sogar auf mehr als 6,3 Milliarden Euro. Die internen Personalkosten für alle Tätigkeiten, die aufgrund des Diebstahlrisikos anfallen, wie das Anbringen von Warensicherungen, Schulungen und Diebstahlsanzeigen, sind hier noch nicht enthalten.
Dennoch haben es Ladendiebe offenbar immer leichter. Verlängerte Öffnungszeiten, nicht angepasste Einsatzplanung der Ladendetektive sowie geringere Personalpräsenz auf den Verkaufsflächen würden den unentdeckten Ladendiebstahl begünstigen, heißt es in der EHI-Studie, an der sich 84 Unternehmen mit insgesamt 17 426 Verkaufsstellen und einem Gesamtumsatz von 82,8 Milliarden Euro beteiligten.
Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland, fordert ein härteres Durchgreifen vor allem der Jusitz. Der Handel müsse sich auf den Staat und dessen Behörden verlassen können, eine wirkungsvolle Abschreckung sei wichtig. Aber zu oft blieben Strafen aus und würden Verfahren eingestellt. „Insbesondere auch der bandenmäßig organisierte Ladendiebstahl muss gründlicher bekämpft werden“, so Genth.