Eine Demonstration am Abend des zweiten Wahlgangs der Parlamentswahlen in Frankreich auf dem Platz der Republik in Paris. © Corinne Simon/kna
München – Man sah Frankreich schon nach rechts abbiegen – doch die Sieger der Parlamentswahl kommen von links. Gibt das Ergebnis Präsident Emmanuel Macron Recht? Und was bedeutet es für die Zukunft Frankreichs und Europas? Stefan Seidendorf, stellvertretender Direktor des deutsch-französischen Instituts in Ludwigsburg, gibt Antworten.
Herr Seidendorf, das extrem rechte Rassemblement National hat die Wahl wider Erwarten nicht gewonnen. Hat Präsident Macron mit den überfallartigen Neuwahlen also doch alles richtig gemacht?
Macron wird das so darstellen, aber am Ende war es ein reines Pokerspiel, das auch ins Auge hätte gehen können. Alle haben einen Schrecken bekommen, wie nah Marine Le Pens Rassemblement National an die Mehrheit zur Regierungsbildung gekommen ist. Der Sieg des Linksbündnisses ist sicher der bessere Ausgang – aber die nächsten Wochen werden zur Hängepartie.
Welchem Kalkül folgte Macron mit seinem Poker?
Es lief wohl ohnehin auf eine Auflösung des Parlaments im Herbst hinaus. Macrons Regierung wäre angesichts der Schwierigkeit, einen neuen Haushalt durchs Parlament zu bekommen, mit einem Misstrauensvotum konfrontiert gewesen. Der Präsident ist dem zuvorgekommen. Zumindest dieser Teil des Kalküls ging auf.
Das Bündnis gegen die Rechten, die Republikanische Front, hat gehalten. Ist das die gute Botschaft dieser Wahl?
Die gute Nachricht ist, dass die Wähler verantwortungsvoll mit ihrer Stimme umgegangen sind – trotz der Taktik, die Macron und seine Leute verfolgt haben. In der ersten Runde stellten sie sich stark gegen die angeblich Linksextremen, um in der zweiten Runde mit links gegen die Wahl des Rassemblement aufzurufen. Das kam in der aktuellen Stimmung in Frankreich, wo viele die Nase voll haben von politischen Spielchen, nicht gut an.
Sieger ist ein Linksbündnis, das Populisten wie Jean-Luc Mélenchon, aber auch Mitte-Kräfte wie Sozialdemokraten umfasst. Wie schätzen Sie diese heterogene Truppe ein?
Mélenchon war gewissermaßen der Strohmann, den alle aufgebaut haben. Die Rechten machten aus ihm ein Schreckgespenst, die anderen sagten, er habe immerhin bei zwei Präsidentschaftswahlen respektable Ergebnisse geholt, so schlimm könne er ja nicht sein. Das Paradoxe ist, dass er am Sonntag gar nicht angetreten ist. Er steht im Hintergrund, so wie Oskar Lafontaine bei der deutschen Linken.
Mélenchon ist ein schillernder Typ, der Deutschland verachtet und die Hamas verharmlost. Wie gefährlich ist er?
Er kommt ja eigentlich, wie Lafontaine, aus der linken Sozialdemokratie, war unter Lionel Jospin ein respektabler Staatssekretär und hat irgendwann den Weg in den Populismus gesucht. Mélenchon ist durchaus mit vielen schwierigen Positionen verbunden, etwa was Deutschland und insbesondere die Merkel-Regierung betrifft. Aber seine Rolle ist nicht mehr so wichtig.
Nicht? Er will regieren…
Mélenchon wird nicht Premierminister werden. Innerhalb des Bündnisses haben vor allem die Sozialdemokraten gut abgeschnitten, die anderen Parteien haben sich also ein Stück von ihm emanzipiert. Ich denke, es ist klar geworden, dass es zwischen Macrons Position und den Linksaußen immer noch eine sozialdemokratische, proeuropäische Position gibt, die Zustimmung findet. Trotzdem ist man auf deutscher Seite gut beraten, sich das Ergebnis gut anzusehen, um nicht am Ende mit deutschlandfeindlichen Positionen konfrontiert zu sein.
Keines der Lager hat eine absolute Mehrheit im Parlament. Was heißt das für die Regierungsbildung?
Der Präsident kann den Premierminister ernennen, der dann eine Regierung vorschlägt. Dafür braucht es erst mal keine Mehrheit im Parlament – aber natürlich muss man Mehrheiten finden, um Gesetze durchzubringen. Macron muss einen Kompromisskandidaten präsentieren, der aufseiten der Linken zu suchen ist. Der oder die Betreffende wird sich natürlich inhaltliche Zugeständnisse herausverhandeln. Das Problem im französischen System ist, dass Abkommen und Bündnisse vor der Wahl geschlossen werden. Nach der Wahl wie in Deutschland eine Koalition zu verhandeln, ist ungewöhnlich.
Sie sprachen vorhin von einer Hängepartie….
Wichtig wird sein, dass die Akteure zuallererst die Realitäten anerkennen. Macron muss eingestehen, dass er die Wahl verloren hat. Die Linken müssen anerkennen, dass sie weit von einer Regierungsmehrheit entfernt sind. Dann wird man zusammenfinden müssen, das wird nicht einfach. Inhaltlich würde es helfen, wenn alle mal wieder von den Palmen runterkommen, auf die sie geklettert sind. Denken Sie an die Renten-Reform, die von den Linken geradezu überhöht worden ist. Aber Macron hat es ihnen auch leicht gemacht.
Diese Wahlen waren auch Anti-Macron-Wahlen. Wird der Präsident künftig sehr geschwächt sein?
Er muss eine neue Rolle finden. Im französischen System liegt die Macht eigentlich beim Parlament, aber seit Nicolas Sarkozy haben Frankreichs Präsidenten die Tendenz, Super-Premierminister zu sein und selbst die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Macron muss nun zu dem zurück, was die Verfassung sagt: Er gibt die Linien vor, regiert wird in Absprache mit dem Premier. Macron wird das noch lernen müssen.
Was heißt das für Berlin? Muss der Kanzler jetzt Europa führen?
Einer führt, die anderen folgen, so funktioniert Europa nicht. Es geht um den guten Kompromiss, für den in der Vergangenheit oft der deutsch-französische Motor stand. Er funktionierte so gut, weil beide Länder so unterschiedliche Positionen haben, dass ein Kompromiss zwischen ihnen potenziell einer für ganz Europa ist. Sich diesen Zusammenhang wieder bewusst zu machen, ist jetzt noch wichtiger als in der Vergangenheit.
Marine Le Pen meint, der Machtwechsel sei nur aufgeschoben…
Für Macron geht es jetzt darum, konstruktive Politik mit den Linken zu machen, die die Prioritäten der Franzosen wirklich abbildet. Viele haben das Gefühl, politisch mit ihren Anliegen gar nicht zu existieren. Die Spaltung ist stark, das Frankreich der Metropolen ist ein anderes als das auf dem Land. Es geht um viel, eine Neuerfindung des republikanischen Modells. Ein extrem neoliberales System mit seinen Ungerechtigkeiten wollen die Franzosen nicht. Aber was stattdessen? Die Antwort kann zur Schrumpfung der Rechten führen, oder zu einer rechtsextremen Präsidentin.