Total entglast: Eine Halle der Gärtnerei Böck. Die Saison war für die Gärtnerei gelaufen. © privat/Repro: Marcus Schlaf
Ganze Häuserfronten hatten kein intaktes Fenster mehr. © pa
Notdürftige Abdichtung: Feuerwehrleute ziehen eine Plane über ein zerstörtes Dach. © Thomas Gaulke
Karl Köstler, Spengler aus Vaterstetten, hatte nach dem Hagel alle Hände voll zu tun. © Stefan Rossmann
Und das waren noch kleine: Ein Mann hält Hagelkörner in der Hand. Manche erreichten die Größe eines Tennisballs. © Archiv
Dächer und Hauswände hielten nicht stand. Ebenso die im Freien geparkten Autos. © Foto: Heinz Gebhardt
Das Loch in der Mitte: Wilhelm Böck hat die Erinnerungen eingerahmt. Die Scheibe: ein Stück Fenster eines Gewächshauses mit Einschlagloch. © Stefan Rossmann
Das Datum hat sich bei vielen Menschen ins Gedächtnis eingebrannt: Donnerstag, der 12. Juli 1984. Es ist kurz nach acht Uhr abends. Eine Hagelwalze rast über den Münchner Osten. Hagelkörner in Tennisball-Größe prasseln vom Himmel. Die Geschosse aus Eis verletzen Menschen und Tiere, zerstören Felder und Gärten, zerschlagen Dächer und Fensterscheiben, demolieren mehr als 70 000 Gebäude und 200 000 Autos sowie rund 100 Kleinflugzeuge und 22 Passagierjets am damaligen Flughafen in Riem.
Etwa 20 Minuten dauert der Horror. Auf den Straßen liegt danach eine Eisschicht von teilweise 20 Zentimetern, die Bäume haben keine Blätter mehr, überall Scherben und heulende Menschen. Die Feuerwehr fährt mehr als 3800 Einsätze. Die bittere Bilanz später: Drei Tote, mehr als 300 Verletzte und Sachschäden von über drei Milliarden D-Mark. Allein die Allianz zahlt 315 Millionen D-Mark an ihre Kunden aus. Die Spur der Zerstörung reicht von Sendling bis in den Landkreis Ebersberg. Der Münchner Norden bleibt weitgehend verschont – auch das Zeltdach des Olympiastadions. Besonders hart trifft es Trudering und die Gemeinden Haar, Grasbrunn und Vaterstetten.
„Das war ein ganz komischer Tag“, erinnert sich Wilhelm Böck von der gleichnamigen Gärtnerei in Neufarn im Landkreis Ebersberg. „Unendlich warm, so schwül-dampfig, die Sonne kam gar nicht richtig durch diese milchige Stimmung.“ Man konnte ein Hitzegewitter erahnen, doch ohne Vorwarnung setzt plötzlich der Hagel ein. „Es hat nicht mal gedonnert“, sagt Böck. Dabei erhält der damals 30-Jährige noch eine Warnung. „Zehn Minuten vorher hat mein Vater angerufen und mir erklärt, dass unser gesamter Betrieb in Trudering durch riesige Hagelkörner zerstört worden ist.“ Als er im Gewächshaus gen München blickt, „habe ich schon die gelbe Wand am Horizont gesehen“.
An diese „ganz eigenartige gelbe Farbe“, erinnert sich auch Karl Köstler (62). Der Spengler aus Vaterstetten sieht den Streifen ebenfalls aus München kommen. Auf dem Weg nach Hause muss er Umwege fahren. „Die Unterführungen waren alle vollgelaufen.“ Dass er bald im Dauereinsatz sein wird, ahnt er da noch nicht.
Als die Hagelkörner kommen, donnert es auf den Blechdächern der Gärtnerei-Hallen, erzählt Böck (noch heute sieht man Dellen). Die Scheiben existieren nicht mehr. Tags darauf dann ein unheimliches Klirren. „Die kaputten Scheiben in den Gewächshäusern fielen raus, weil der Kitt warm geworden ist und kein Gegendruck mehr da war.“ Das gespenstische Geräusch hat Böck noch in guter Erinnerung. Die Scherben der großen Scheiben seien „wie Schwerter heruntergefallen“. Teilweise stecken sie spitz im Boden. Für Tage darf niemand in die Gewächshäuser. Zu gefährlich. „Wäre der Hagel tagsüber gekommen, wenn alle Mitarbeiter da sind, hätte es sicher Tote gegeben“, sagt Böck im Rückblick.
Innerhalb weniger Minuten ist an beiden Standorten der Gärtnerei alles zerstört. Dabei befindet sich der Betrieb gerade auf einem Höhepunkt. „Damals war der Verkauf am Freitag ein wichtiger Termin, wir hatten da ganz viel angebaut.“ Nun gibt es nicht mal mehr Ware für eine Mark. Nachdem er sich auch von der Zerstörung in Trudering ein Bild gemacht hat, setzt sich der Gärtnermeister mit einer Halben Bier auf die nahe Straßenbrücke in Neufarn und schaut auf seinen zerhagelten Betrieb. „Ich wollte keinen sehen!“
Spengler Karl Köstler erinnert sich noch genau an die Stimmung nach dem Unwetter. „Nach dem Hagel herrschte Totenstille: kein Vogelzwitschern, nichts mehr!“ Quasi die Ruhe vor dem Sturm bei ihm. Denn der Hof seiner Dachdeckerei ist kurz darauf voller Menschen. „Die wollten Folien und Planen, um ihre Häuser notdürftig dicht zu kriegen.“ Die Biberschwanz-Dächer sehen aus, als hätte jemand sie mit einem Hammer bearbeitet. Gibt es am Dach nur Lattung und Ziegel, läuft das Wasser durchs gesamte Haus. Viele Keller sind geflutet. „Ich stand damals total neben mir – was mache ich bloß zuerst, wo packe ich jetzt an?“, erinnert sich Köstler. Mit diesen Emotionen ist er nicht allein. „Jeder hatte einen leichten Schock.“
Am nächsten Tag herrscht bei Köstler totales Chaos. „Unsere Untermieterin saß am Telefon und schrieb die Anrufe auf: etwa 500!“ Der Dachdecker fährt von Haus zu Haus, um erste Hilfe zu leisten. Abdeckungen sind sofort ausverkauft. „Die Leute standen mit Schubkarren bei uns auf dem Hof, um Dachziegel zu holen.“ Doch auch die: vergriffen. „Alle bayerischen Ziegelwerke waren leer gefegt, die Lieferanten sind nicht mehr nachgekommen.“
Köstler fährt selbst zum Hersteller, um wenigstens ein bisschen Ware zu bekommen. Seine Firma, erzählt er, habe damals viele Kunden verloren, weil sie nicht allen Wünschen so schnell nachkommen konnte. „Ich war total überfordert.“ Zwei Firmen aus dem Dortmunder Raum bieten sich ihm an. Die Zehn-Mann-Kolonnen wurden als Sub-Unternehmen beschäftigt. „Da waren viele Dachdecker-Betriebe von außerhalb unterwegs, es wurde aber auch viel gepfuscht.“ Die Auftragsbücher sind in den nächsten Jahren voll, weil viele geplante Sanierungen vorziehen. Sein eigenes Haus repariert Köstler erst sehr viel später. „Das Eigene kommt immer am Ende.“
Auch bei Wilhelm Böck rufen am nächsten Tag Gärtner aus nah und fern an, um Hilfe anzubieten. Sogar die Chefs kommen. Landwirte und Anwohner aus dem benachbarten Angelbrechting, das es nicht getroffen hat, helfen ebenfalls beim Aufräumen. Sogar eine Junggärtner-Gruppe aus Augsburg rückt an. In den Gurken und Tomaten stecken Glassplitter. „Wir haben alles rausgerissen und entsorgt“, erzählt Böck. Auch die gesamte Erde der drei Hektar Gewächshausflächen ist mit Splittern durchsetzt und muss abgetragen werden. „Wer eine Schaufel halten konnte, hat uns damals geholfen, es war eine wahnsinnige Solidarität.“ Heute bietet Wilhelm Böck Betrieben bei Naturkatastrophen seine Hilfe an. „Aus Dankbarkeit stellen wir bei Hagelschäden auch immer eine Erstbepflanzung kostenlos zur Verfügung.“
Die Böcks sagen nach dem Hagel alle Großmarkttermine ab. Es gibt nichts mehr zu verkaufen. „Das Jahr war für uns beendet.“ Die Familie bangt um ihre Existenz. „Wenn man mal 18 Wochen vom Markt weg ist, orientieren sich die Abnehmer halt anders.“ Die Versicherung kommt bereits am Freitag zur Begutachtung, einen Tag nach dem Unwetter. „Schon am Montag haben sich alle betroffenen Gärtnereien versammelt und den ersten Scheck erhalten.“ Die Gewächshaushersteller liefern schnell die ersten Scheiben. Dennoch: Erst Ende Oktober können die Böcks wieder die erste Pflanze in den Boden setzen.
Der 12. Juli hat Wilhelm Böck geprägt. „Das war sehr lebenseinschneidend“, bekennt er. Wenn heute Gewitter angesagt sind, „dann werde ich ganz kribbelig und nervös“. Karl Köstler teilt die Dächer seiner Kunden inzwischen in vor und nach 1984 ein. Ab und zu kommt ihm heute noch ein Ziegel mit dem typischen halbrunden Riss unter. Ein Thema sei nach dem 12. Juli übrigens beendet gewesen: Die Diskussion, ob unter die Lattung noch eine Abdichtung gehört. „Ab da gab es kein Dach mehr ohne.“
Was Wilhelm Böck bis heute entsetzt: Nach dem Unwetter setzte eine regelrechte Völkerwanderung von Schaulustigen ein. „Es gab sogar Radtouren zu unseren Scherbenhaufen!“ Ein US-Fernsehsender sei total aufdringlich auf seinem Hof aufgetaucht. „Die habe ich dann rausgeschmissen.“ Auch Karl Köstler erinnert sich: „Da sind Gaffer durchgefahren und haben Fotos von zerstörten Häusern gemacht.“ Fotos machen – daran habe er damals gar nicht gedacht, sagt Köstler. Zu viel Arbeit, keine Zeit.